Wollter
Thriller-Drama nach wahren Begebenheiten
Über den Tatsachen-Roman
Die Erlebnisse eines 16jährigen Schülers in der DDR, der aus politischen Gründen zu mehreren Jahren Haft verurteilt, inhaftiert und viele Monate in verschärfter Einzelhaft verbringen musste, sind Grundlage dieser spannenden wie auch ereignisreichen und dramatischen Geschichte des Romanhelden Wollter, der nach der Haft mit 18 Jahren gegen seinen Willen aus der DDR ausgebürgert und in die BRD abgeschoben wird. Wollter, der mit den Verhältnissen in der BRD nicht vertraut ist, der dort keine Verwandten oder Bekannte hat und dem weder Behörden noch Organisationen helfend unter die Arme greifen, findet nur Anschluss zum kriminellen Milieu. Er wird verhaftet und kann - sarkastisch gesagt - nun Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen DDR-Knast und BRD-Strafvollzug am eigenen Leibe erleben.
Der erfolgreiche Roman Wollter ist ein rasanter Thriller, dessen Haupthandlungen sich in der Zeit von Mitte der 1970er Jahre bis Ende der 1980er Jahre ereigneten.
Wollter
Thriller-Drama von
Olaf W. Fichte
Wollter: Dreiundzwanzigster Teil
Wie versprochen, beförderte man mich am Dienstag in die Ettstraße. Wiederum ganz allein in einem vergitterten grünen VW-Bus. Nachdem ich meinen Beitrag zur Befriedigung ihres Sammeltriebs geleistet, indem ich mich ihrem Fotografen und nicht minder ambitionierten Klavierlehrer in Personalunion zu Verfügung stellte, begleiteten mich zwei Grüne hoch in die Zweite.
Knapp war, wie schon bei unserer ersten Begegnung, ruhig, freundlich und äußerst freigiebig an Zigaretten. Sein Partner saß nicht an seinem Platz. Bastelte er an einem neuen Überraschungsmoment? Vorsichtshalber setzte ich mich seitlich an Knapps Schreibtisch, so dass ich die Tür mit dem linken Auge im Blick behielt.
„Ihre Aussage bezüglich des Schusses, deckt sich mit dem Gutachten des Landeskriminalamtes. Der Schuss löste sich unmittelbar an der Wand, wobei der Lauf zur Decke gerichtet sein musste, schreibt das LKA. Außerdem stimmt die Hülse, die wir von Ihnen erhielten, mit dem am Tatort gefundenen Projektil überein. Allerdings sagt das Opfer aus, keinen Schuss gehört zu haben.“
„Ist das denn so wichtig? Vielleicht stand er unter Schock oder so was. Laut genug war es aber.“
„Eine Zeugin aus dem dritten Stock hat den Schuss gehört.“
„Na bitte, Fall gelöst.“
„Als sie den Knall hörte, eilte sie zum Fenster und sah Sie neben einem Auto vor dem Haus. Sie hat Sie anhand eines Lichtbildes, das wir ihr vorlegten, identifiziert. Das Auto fuhr weg und Sie rannten wenig später in die andere Richtung. Sie glaubte, der Knall rühre von dem Auto.“
„Mit fünf Koffern, Stereoanlage, Videorekorder, Fernseher und Waschmaschine unterm Arm? Und was trug ich in der anderen Hand?“
„Keine Waschmaschine.“
„Hoi, keine Waschmaschine?“
„Nein, und auch keine Stereoanlage.“
„Dann kann ich es nicht gewesen sein. Die Zeugin ist geplatzt. Ich weiß nämlich noch ganz genau, dass ich eine Waschmaschine unterm Arm trug, weil die mir beim Sprint ständig verrutschte und unangenehm in die Seite drückte.“
„Nach ihrer Aussage, führten Sie nichts mit sich. Sie wunderte sich noch, dass Sie bei der Kälte keine richtige Jacke trugen. Sie kamen ihr vor wie ein ...“
„Zerlumpter Hofhund?“
„Hm, Sandler.“
„Scharf beobachtet. Wenigsten haben sich die Diebstähle geerdet“, sagte ich und atmete erleichtert aus.
„Hm, da wäre noch etwas: Die Staatsanwaltschaft wirft Ihnen vor, Sie hätten mit den Pflasterstreifen, die wir neben der Tür vorfanden, geplant, Ihr Opfer zu fesseln und zu knebeln. Auch, weil wir im Badezimmer ein Telefonkabel mit Doppelschlinge sicherstellen konnten.“
„Schwachfug! Mit dem Pflaster habe ich irgendwann das Schloss innen an der Tür befestigt, weil nichts anderes zu finden war. Und die Streifen, die ich nicht brauchte, habe ich an den Sicherungskasten geklebt, weil der zufällig in der Nähe war. Und das Telefon – das klingelte irgendwann mal. Dann wird es wohl auch einen Draht nach draußen gehabt haben.“
Knapp runzelte die Stirn. „Hm, im Bericht der Kollegen von der Spurensicherung steht nichts von einem beschädigten Telefon. Werde ich da noch mal nachhaken.“
„Dann kann ich jetzt nach Hause?“
Er sah nachdenklich vom Blatt in der Schreibmaschine auf.
„Sie haben kein Zuhause.“
„Jeder hat ein Zuhause.“
„Die Kollegen in Bamberg haben Sie abgemeldet.“
Abgemeldet wie abgeschrieben? Warum sagen die im Westen nie, was sie wirklich von einem wollen. Glaubt der denn, ich falle auf so eine billige Verarsche rein? Er will mich weichkochen, ganz klar. Aber weshalb? Erwartet der, dass ich jetzt Losjammer, Rotz und Wasser heule? So viel Zeit hat nicht mal er.
„Dann komme ich nicht so bald raus?“
„Darüber entscheide nicht ich. Das Opfer gibt an, Sie haben mit einer glänzenden, großkalibrigen Pistole auf ihn gezielt. Wo ist die?“
„In eurer Sammlung, nehme ich an. Die glänzende Pistole war ein brünierter Revolver. Außerdem habe ich nicht auf ihn gezielt.“
Ich lehnte mich zurück, streckte die Beine weit von mir und bediente mich aus der Schachtel Zigaretten, die Knapp leichtsinnigerweise auf dem Tisch hatte liegen lassen. Mir war die Lust vergangen. Das Verhör langweilte mich. Und Knapp sowieso. Er setzte mich nicht unter Druck, hackte nicht nach. Geduldig tippte er mit zwei spitzen Zeigefingern seine Fragen und meine Antworten in eine mechanische Schreibhilfe. Es schien mir, als sei er total vernarrt in seinen Job.
„Wir sind noch nicht fertig. Da gibt es noch weitere Ungereimtheiten. Zum Beispiel dieses Foto hier“, und legte mir ein Polaroid in die Hand.
„Wo ist die Ungereimtheit? Das bin ich“, sagte ich und spürte den verdammten Vorschlaghammer im Magen.
„Es lag neben Ihrem Entlassungsschein im Wohnzimmer der Wohnung des Opfers.“
„Gefällt es Ihnen nicht? Oder wollen Sie andeuten, dass ich so blöd bin und Wohnungen knacke, wertlosen Krempel davonschleppe und als Trost Autogramme hinterlasse? Mit so viel Genialität können Sie bei mir nicht rechnen. Haben Sie sich seinen Schreibtisch vorgenommen? Nichts gehört ihm. Fernseher, Stereoanlage, Möbel ... nahezu die komplette Wohnungseinrichtung auf Pump – und überall Schulden. Eine Schublade randvoll mit Zahlungsaufforderungen – oder wie das heißt – und Mahnungen. Selbst der Wagen gehört nicht ihm. Ich habe nichts geklaut! Na ja, ein Handtuch, ja. Aber der abgefressene Lumpen war weder aus Gold noch diamantenbesetzt! Ich schwöre es!“
„Kommen wir auf das Foto zurück“, sagte Knapp unbeeindruckt.
„Warum? Sie sehen doch selbst, dass ich schlief. Augen zu, Mund auf. Im richtigen Leben laufe ich nicht so blöd herum. Was soll ich dazu sagen? Kann ich noch eine Zigarette haben?“
Er gab mir eine und versteckte die Schachtel in der Hosentasche.
„Danke! Ich weiß nicht, wer es aufgenommen hat, warum und wann es aufgenommen wurde. Und ich weiß auch nicht, weshalb es mit meinem Entlassungsschein in der Wohnung lag.“
„War er es? Wollte er Sie reinlegen?“
„Ich bin nicht katholisch.“
„Das soll’s für diesmal gewesen sein. Oder nein, noch nicht ganz. Wo ist der Wagen abgeblieben?“
„Wie oft denn noch: Ich habe kein Auto! Ich kann nicht mal Auto fahren. Mach mich doch nicht strafbar.“
„Hm, wir sehen uns dann am Donnerstag. Ich hoffe, die Vernehmung dann abschließen zu können. Das Opfer werde ich nochmals befragen müssen. Seine Aussagen erscheinen mir nach Ihrer Einlassung doch recht lückenhaft.“
Was habe ich da nur angerichtet? Ich habe doch gar nichts gesagt.
Er stand auf und ging zur Tür. Ich folgte ihm.
„Und Ihr Mittäter wird auch bald auf dem Stuhl da sitzen. Wir haben gegen ihn einen internationalen Haftbefehl erlassen und an Interpol weitergeleitet“, sagte er und drückte die Klinke runter.
Knapp eröffnete am darauffolgenden Donnerstag damit, dass er am Tag zuvor unser Opfer ein weiteres Mal vernommen habe.
„Wir haben ihn mit den Pornos konfrontiert. Er sagte aus, dass alle Personen in den Filmen über achtzehn Jahre alt seien.“
„Und ich bin ein bisschen bekloppt. Haben Sie sich die Filme denn nicht angesehen?“
„Dazu bestand keine unmittelbare Veranlassung. Aus einem anderen Grund waren wir gestern vor seiner Vernehmung noch mal da – die Wohnung ist aufgelöst. Wir wissen aber von den Tatortfotos, dass sich in der Wohnung Videokassetten befanden.“
„Darüber sollten wir nachdenken.“
Knapp schleppte sich zur Tür, zog sie auf und bellte mürrisch auf den Gang hinaus: „Unsere Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen.“
„Das war’s schon?“
„Das war’s!“
Im Moment des Entzuges von Liebe und Freiheit, ist der Mensch lebendig und bei Besinnung. Tage später, Tränen trocknen, die Augen verblassen, die Haut vergilbt, Aggressionen wachsen, ändert sich auch sein Zeitgefühl. Tage werden länger, Wochenenden dehnen sich bis ins Unendliche. Nichts geschieht, keine Zerstreuung – Trostlosigkeit macht sich breit. Es dominierte der Trübsinn unter den grimmigen Mienen knallharter Jungs.
Das Fenster meiner Zelle befand sich eine Handbreit unter der Decke. Es war mir nicht vergönnt, hinauszusehen. Selbst dann nicht, wenn ich mich auf den Tisch stellte und streckte bis es überall schmerzte. Deshalb bestand meine größte Freude im täglichen Hofgang. Eine volle Stunde unter freiem Himmel. Ich genoss jede einzelne Minute in vollen Zügen.
Mitte Dezember besuchte mich eine kleine, runde Endvierzigerin. Frau Jamon, auf die mich ein Richter Hoßt vom Landgericht München drei Tage zuvor sanft vorbereitete. In seiner Verfügung bestellte er Frau Isolde Jamon zu meiner Pflichtverteidigerin. Ja, dieser Richter bestellte Frau Jamon, nicht ich. Er fragte mich auch nicht. Aber das störte mich nicht, denn Frau Jamon war von nun ab nicht einfach meine Anwältin, sondern meine Pflichtverteidigerin. Es war demnach ihre Pflicht, mich zu verteidigen. Peter und sein angebliches Schmiergeld – beide konnten mich mal da besuchen, wo der Wind kräftig bläst.
„Ich wäre gern früher gekommen, aber ich habe die Verfügung erst gestern zugestellt bekommen“, eröffnete sie und rückte unablässig an ihrer viel zu großen Brille herum.
In der Tat, früher war alles besser. Ich lächelte schüchtern, nickte mitfühlend und dachte, gute Frau, gestern war Sonntag.
„Holen Sie mich raus? Auf Kaution oder so?“
„Haben Sie denn Geld?“
Ich schüttelte den Kopf.
Sie lachte theatralisch und laut. „Dann vergessen Sie’s. Kaution ist nichts für Sie“, und grinste ekelhaft herablassend, wobei ihre feisten Wangen das riesige Brillengestell umklammerten. „Sie müssten schon ein dickes Konto haben, wollten Sie das Gericht beeindrucken. Je praller, desto günstiger die Kaution. Je weniger sie anbieten, desto höher.“ Sie kramte in ihrer Handtasche, barg eine Schachtel Gauloises und hielt sie mir entgegen.
„Rauchen Sie?“
„Wer nicht?“
„Bedienen Sie sich.“
Hemmungslos griff ich zu. Anwälte sind gespickt. Ich schnappte mir fünf der filterlosen Franzosen.
Eingehüllt in eine dichte Tabakwolke schilderte ich ihr meinen Fall.
„Mit Waffe?“
„Ja.“
„Dann kann ich sofort Ihre Pflichtverteidigung übernehmen. Andernfalls hätten wir drei Monate warten müssen. Unterschreiben Sie die Vollmacht.“
Ich griff nach Papier und Stift, zögerte aber noch.
„Als erstes werde ich Akteneinsicht beantragen. So wie Sie mir den Sachverhalt dargestellt haben, könnten es mehr als fünf Jahre werden. Machen Sie sich aber darüber keine Gedanken.“
„Ach nein?“
„Nein. Wir werden da mit Hilfe eines Gutachtens rauskommen.“
„Gutachten? Was für ein Gutachten?“
„Über Ihre Schuldfähigkeit.“
„Verstehe ich nicht.“
„Trunkenheit, Drogen, geistige Verwirrung, seelische Belastungen – irgendwas. Der Gutachter wird schon was passendes finden“, sagte sie ungeduldig.
„Dann bin ich schon so gut wie draußen?“
„Unterschreiben Sie jetzt! Ich werde alle acht bis vierzehn Tage nach Ihnen sehen.“
Ich unterschrieb. Auch wenn ich ihre Art nicht sehr mochte, was sie sagte, gefiel mir wirklich gut. Es hatte den Wohlklang von wöchentlicher Kurzweil. Aber auch einen zarten Hauch von: endlich mal wieder ein Weihnachten nicht hinter Gittern.
Sobald sie in die Akten sehen konnte, unterhalten wir uns bestimmt ausführlicher. Die heutigen fünf Minuten waren nur zum Aufwärmen, zum gegenseitigen Beschnuppern. Eine echt clevere Mutter ist mir da zugeflogen. Sie kämpft mit Finesse und allen juristischen Tricks. Einfach alles, was ich von einem Profi zu erhalten hoffte, gibt sie mir.
Ich liebe den Westen!
Leuchtend blauer Himmel und eine hauchdünne, schillernd weiße Schneedecke bedeckte den Hof, zart wie Puderzucker auf dem tags zuvor verteilten Stollen, der eher ein geschickt getarntes, mehrere Tage altes Weißbrot war. Entspannt drehte ich meine Runden. Wich leichtfüßig den beiden kleinen zugefrorenen Pfützen aus und genoss die Momente unter freiem Himmel.
Viel zu schnell gingen die sechzig Minuten vorüber. Wie jeden Tag, so auch an diesem Tag vor Heiligabend. Es war, als überschritt ich mehrere Zeitzonen, trat ich vom Haus auf den Hof hinaus. Eine ganz gemeine, üble und hinterhältige Sache war das: Drinnen schlich, draußen flog die Zeit nur so dahin.
Und an diesem Tag mehr noch als sonst. Am Schnittpunkt der achtzehnten zur neunzehnten Runde wurde ich auf meine Station zum Stationsleiter gerufen.
„So ist das eben im goldenen Westen. Müsstest dich eigentlich pudelwohl fühlen. Alles wie zu Hause in der Ostzone: feuchter Plattenbau mit Frischluftzufuhr. Und ein Mal täglich kriegst du sogar noch eine warme Mahlzeit. Viel zu gut geht es euch bei uns. Und dann auch noch krumme Dinger drehen und obendrein bei jeder Kleinigkeit rummaulen. Solange du U-Gefangener bist, entscheidet der Staatsanwalt, ob du arbeiten darfst. Jetzt will ich nichts mehr davon hören. Raus!“
Hilfe zur Kommentarfunktion
Ich erhalte beim Absenden eine Fehlermeldung.
Lösung
Bitte aktivieren Sie Cookies in Ihrem Browser. Sobald Sie den Kommentar abgeschickt haben, können Sie Cookies in Ihrem Browser wieder deaktivieren. Mehr über Cookies erfahren Sie hier.
Weitere Themen finden Sie in der FAQ.
Kommentare