Wollter

Thriller-Drama nach wahren Begebenheiten

Über den Tatsachen-Roman

Die Erlebnisse eines 16jährigen Schülers in der DDR, der aus politischen Gründen zu mehreren Jahren Haft verurteilt, inhaftiert und viele Monate in verschärfter Einzelhaft verbringen musste, sind Grundlage dieser spannenden wie auch ereignisreichen und dramatischen Geschichte des Romanhelden Wollter, der nach der Haft mit 18 Jahren gegen seinen Willen aus der DDR ausgebürgert und in die BRD abgeschoben wird. Wollter, der mit den Verhältnissen in der BRD nicht vertraut ist, der dort keine Verwandten oder Bekannte hat und dem weder Behörden noch Organisationen helfend unter die Arme greifen, findet nur Anschluss zum kriminellen Milieu. Er wird verhaftet und kann - sarkastisch gesagt - nun Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen DDR-Knast und BRD-Strafvollzug am eigenen Leibe erleben.

Der erfolgreiche Roman Wollter ist ein rasanter Thriller, dessen Haupthandlungen sich in der Zeit von Mitte der 1970er Jahre bis Ende der 1980er Jahre ereigneten.

Ein überaus intensives Leseerlebnis bietet Ihnen das Thriller-Drama Wollter.
Gebundene Ausgabe

Wollter

Thriller-Drama von

Olaf W. Fichte

Wollter: Zweiundzwanzigster Teil

Autor: Olaf W. Fichte (Kommentare: 0)

Annähernd drei Stunden war der ungewaschene grünweiße Gefangenenbus mit den schmalen Gucklöchern auf der Piste. Ich fragte mich, was aus uns würde, wenn es ihn die Böschung runterwürfelte und er in Flammen aufging. Zellentürchen und Gitter verriegelt und verschlossen, keine Fenster, kein Fluchtweg. Damit hätte sich das dann wohl geerdet.

Überflüssigerweise warnte uns das Begleitpersonal vor der Abfahrt auch noch, dass sie bei einem Fluchtversuch umgehend von der Schusswaffe Gebrauch machen würden. Es hatte sich herumgesprochen, dass hinter Mauern geschossen werden darf.
Sie hievten die Zugbrücke hoch und durch meinen Kopf geisterte Elvis „In the Ghetto“. In Strömen regnete es aus schweren, dunklen aus Osten kommenden, schnell nach Westen ziehenden Wolken.

Stadelheim, wo wir am Montagnachmittag eintrafen, war ein riesiger Hort der Einsamkeit. Mehr noch als in Nürnberg hatte ich den Eindruck, die Zeit sei vor Jahrzehnten stehen geblieben.

Auf der Kammer roch es nach Eintopf. Ich war hungrig. Müde warf ich meine Kleidung auf den Tresen, ging nach nebenan unter die Dusche und schlüpfte nach der hastigen Erfrischung in knasteigene Wäsche: Einen aufgearbeiteten blauen Schlosseranzug, der mindestens drei Nummern zu klein war und schwarze Schuhe, die, es überraschte mich schon nicht mehr, um wenigstens zwei Nummern zu groß waren.

Eine Tür weiter erwartete mich eine dunkelhaarige Frau in weißem Kittel vor einem vergilbten Paravent. Das Gesicht hinter einer getönten Brille und Mundschutz, die Hände in Gummihandschuhen versteckt.
Sie saß auf einem Stuhl und befahl mir, auf dem Hocker vor ihr Platz zu nehmen und die linke Armbeuge freizulegen. Während sie meinem Körper gesundes, tiefrotes Leben abnötigte, offenbarte sie, dass ich mich einem AIDS-Test unterziehe. Freiwillig natürlich. Eine Verweigerung hatte zwar keine gravierenden Folgen, doch kam ich zu dem Schluss, auch ohne die in Aussicht gestellte Absonderung und den roten Punkt an meiner Zimmertür ganz gut zurechtzukommen.

Die Bediensteten des Hauses traten mir wohltuend vorurteilsfrei gegenüber. Ihr Empfang war, wie ich ihn so oder ähnlich bereits kannte, betont herzlich und voller Anteilnahme.
„Hier ist wohl nicht der goldene Westen?“ und „Dann geh doch nach drüben!“ mauserten sich zu Standardsätzen. Sie meinten es nicht wirklich so, sie wussten es einfach nicht anders. Ich trug es ihnen nicht nach, weil ich sehr schnell erkannte, dass das formelhaft und bedarfsgerecht dem entsprechendem Niveau Angepasste ihnen hilfreich bei der Bewältigung ihres stupiden Alltags war.

Dem Ermittlungsrichter, welchem ich vier Tage nach meiner Einlieferung vorgeführt wurde, legte ich nochmals all jenes dar, was ich bereits dem Nürnberger Haftrichter zu Protokoll gab.
Auf meine Frage hin, antwortete er, als bitte er beim Fleischer um 100g Leberkäse: „Auf fünf Jahre aufwärts können Sie sich schon mal einrichten.“
Wie großzügig. Bist wohl zu viel allein? Du hast ja keinen Durchblick, du Einzelkind. Ich habe absolute Spitzenanwälte. Die holen mich hier raus. rucki zucki geht das, du Amateur!
Plötzlich wurde mir speiübel.
„Kann ich so was auch haben?“, fragte ich heißer.
„Was?“
„Haftbefehl.“
„Bitte?“
„Könnte ich bitte auch einen ...“
„Das meinte ich nicht. Ich meinte, was Sie mit dem Haftbefehl wollen?“
„Neugier. Ich habe so was noch nie in der Hand gehabt.“
„Sie werden in Ihrem Leben sicher noch genug davon bekommen. Da kommt es auf den einen auch nicht an.“
Ich bin doch aber so sentimental, wollte ich sagen, sagte es aber nicht, sah ihn nur traurig, treudoof oder irgendwie blöd an.
„Warten Sie“, und blätterte im Packen unter dem roten Papier des Haftbefehls. „Ich glaube ... Ja, hier ist noch eine Kopie. Und hier ist auch ein Brief von Ihrem Anwalt.“
Ich nahm die Kopie und den Brief vom Tisch.
„Der ist offen!“
Er zuckte mit den Schultern und warf mir strafende Blicke über seine halben Brillengläser zu. Auch so ein Geizhals.
„Er hat sein Mandat niedergelegt“, sagte er ohne auch nur ein Funken der Anteilnahme.
Mein Mageninhalt trat an zum Appell.
„Muss ich den Brief jetzt nicht mehr lesen?“
„Ihm ist der Weg zu weit.“
Ich faltete den Brief und steckte ihn in die Hosentasche.
Wieder auf meiner Zelle, stürzte ich zur Toilette und gab ihr tüchtig saures.

In der Folgezeit vergrub ich mich hinter Büchern und schrieb Briefe, die ich nie absandte, weil mir die Freundin dazu, und auch das Kleingeld für Briefmarken fehlte. Einem Kalfaktor, der sich darauf berief, nicht Hausarbeiter, sondern Stationsarbeiter zu sein, vererbte ich meine abendlichen Wurstrationen. Dafür brachte er mir morgens mehrere Tage alte Zeitungen, die andere tags zuvor wegwarfen.

Und während des täglichen Hofgangs lernte ich das ganze Leid unschuldig einsitzender kennen. Es brach mir das Herz. Für mich bis dahin unvorstellbar, wie viele Männer die Blüte ihrer Jahre unschuldig hinter Mauern verbringen müssen. Sie alle zu trösten, dafür fehlte mir die Kraft. Weshalb ich mich auf Peter konzentrierte.

Den mochte zwar keiner, aber das war mir Brust, denn Peter hatte den SPIEGEL abonniert.
Ohne Zweifel war auch Peter ein Justizirrtum, wenn nicht gar der Justizirrtum schlechthin. Etwas, das er nicht erklären konnte, trieb ihn, im Juli und August mit einer albernen Wollmütze auf dem Kopf herumzulaufen, in sieben Banken vorstellig zu werden und beim Hinausgehen ein paar Tüten voller Geldscheine ohne Kassenbeleg mitzunehmen. Das gehörte sich zwar nicht, war aber auch nicht böse gemeint. Und da er sein ungebührliches Benehmen weder sich noch anderen gegenüber erklären konnte, war er eben unschuldig.
Einleuchtend – irgendwie.

Doch Peter räuberte nicht nur, nein. Als Jurist, der zwischen der vierten und fünften Bank sein Studium abschloss, und Sohn schwerreicher Eltern, glänzte er selbstverständlich von Haus aus mit weltmännischem Auftreten. Zuweilen ließ er mich bereitwillig daran teilhaben.
„Wenn du kein Moos hast, ist es eh wurscht, ob du einen guten oder schlechten Anwalt hast. Glaub mir, der eine wie der andere wird dich verhökern. Die verkaufen drei, vier oder fünf arme Schweine wie dich, für einen, der anständig was hinblättert. Eben, so einer wie ich. Für den legen die sich dann aber auch richtig ins Zeug. Die anderen rutschen bei den Deals mit Richtern und Staatsanwaltschaft durch den Rost. Informelle Absprache nennen wir das. Fächer Minimum fünf Tausender auf den Tisch und verspreche noch mal dasselbe, wenn er dich auf Bewährung rausholt. Glaub mir, der bringt dir persönlich Kaffee und Zigarre ans Bett. Alles Gauner, sage ich dir. Merke dir das gut!“
Ich nickte und schmunzelte über seine verschlagenen Blicke, mit denen er mich in die Untiefen seines Berufsstandes führte, sagte aber nichts.
Meist nickte ich nur verstehend oder auch mal zustimmend, ging aber nur selten auf seine Weisheiten ein. Und wenn doch, dann fragte ich irgendetwas, um ihn bei Laune zu halten, lief neben ihm her, lauschte geduldig und zählte die Tage bis Freitag. Dann nämlich brachte er mir den SPIEGEL der Vorwoche mit, den ich gierig las und später gegen Tabak und Wurst weiterreichte.

Aufklärung über den Zeitpunkt meiner Entlassung versprach ich mir Ende November von einem Ausflug ins Münchner Polizeipräsidium. Es war das erste Mal, dass ich dem Mief der U-Haft entkam. Und es war auch das erste Mal, dass ich mich über eine Begegnung mit der Bullerei freute. Das ging so weit, dass ich mich dabei ertappte, als ich gedanklich schlimme Worte wie Polizei und Polizist benutzte. Ausgesprochen habe ich sie natürlich nie, dafür schämte ich mich des atypischen zu sehr.

Rastlos drehte ich kleine Runden in der verkeimten Wartezelle im Keller des Präsidiums. Ein ausgesucht finsterer Ort, an dem es derart entsetzlich nach Urin stank, dass ich meine Atmung auf das absolut Notwendigste herunterfuhr, weil ich fest davon überzeugt war, mit jedem Atemzug eine volle Dröhnung zu mir zu nehmen und es mein Magen gar nicht lustig fände, wenn sich da vor dem Frühstück etwas ihm Fremdes einschliche.

Nach sechs Stunden öffnete sich die Tür. Als mein Name fiel, eilte ich hechelnd hinaus auf den hellen Flur.
„Sie müssen die lange Wartezeit entschuldigen. Wir haben kurzfristig einen wichtigen Fall dazwischenbekommen“, erklärte einer der beiden Zivilen. Und der andere ergänzte kryptisch, dass sie von der K 212 seien.

„Noch mal Glück gehabt. Ich wollte mir eben ein Taxi rufen lassen“, sagte ich Frischluft konsumierend.
In ihrem Büro in der zweiten Etage angekommen, bot mir der kleine weißhaarige Kripomann, der sich als Herr Knapp vorstellte, einen Stuhl an und fuhr fort.
„Für eine ausgedehnte Vernehmung zur Sache reicht die Zeit heute nicht mehr. Wir werden das am Dienstag nachholen. Jetzt sind nur zwei, drei Fragen zu klären. Einverstanden?“
Einer von uns hat nicht alle Schnitten im Beutel. Was ist das für eine Masche, die ihr hier abzieht? Was, wenn ich nicht einverstanden bin und dir den Rücken kehre?
Ich nickte.
Er nickte und sagte: „Ein Rechtsanwalt Mach oder Mauch von der Kanzlei Sperling aus Nürnberg hat uns die letzten Tage mehrfach angerufen. Herr Sperling könne Sie nicht besuchen kommen, weil die Fahrt nach München zu kostspielig sei. Die Kostenfrage sei wohl noch nicht geklärt. Er lässt fragen, ob Sie die Kosten übernehmen. Außerdem wolle er beim Ermittlungsrichter anfragen, ob der Staat zur Kostenübernahme bereit sei.“
„Der ist schon davongeflogen.“
„Hm. Dann nun zu Ihnen.“
„Ohne Dampf, kein Kampf.“
Er geriet ins Grübeln und ich übersetzte frei: „Darf ich rauchen?“
„Selbstverständlich.“
„Dann haben Sie bestimmt eine Zigarette für mich.“
Einen Moment sah er mir irritiert in die Augen, lächelte fein und fummelte dabei Packung und Feuerzeug aus der Brusttasche seines zerknitterten rostbraunen Hemdes.
Ich lehnte mich zurück und inhalierte genussvoll. Während der letzten Wochen sammelte ich meine Kippen, öffnete sie und stopfte das Zeug in ein Tütchen aus Zeitungspapier. Das wirklich widerwärtig daran war, dass es nicht nur aussah wie Kinderkacke, es schmeckte auch noch so.
„Wo hält sich Luis auf?“
„Luis, wer?“
„Ihr Mittäter. Ihr Zimmergenosse.“
„Auf Genossen reagiere ich empfindlich bis allergisch.“
„Was ist das für eine Type, dieser Luis?“
„Sie meinen den, mit dem ich ein Zimmer teilte? Der hieß nämlich auch Luis. Hat er was ausgefressen?“, fragte ich neugierig.
„Erzählen Sie mir was über ihn.“
„Da gibt es nicht viel. Er trägt weiße Socken, braune Schuhe und manchmal, stellen Sie sich das mal vor, sogar kurze Hosen.“
„Sehen Sie sich die Fotos an.“ Knapps Partner, den ich schon vergessen hatte, kam von irgendwo aus dem Hintergrund und legte, über meine rechte Schulter gebeugt, drei postkartengroße Schwarz-Weiß-Aufnahmen vor mir auf den Tisch. Eine von sich und zwei von Luis.
„Haben sie ihn erkannt? Ist einer von denen Luis?“
Möchte mal wissen, für was die mich halten. Ich zog an meiner Aktiven, rollte sie zwischen den Fingern, sprang plötzlich auf, zeigte auf Partners Porträt und rief völlig aufgelöst: „Super, man! Das ist doch ...! Das ist doch ...! Wie heißt er noch gleich! Ich bin ja so aufgeregt! Mein Lieblingsschauspieler! Echt super, eh!“, und setzte mich wieder.
Umsonst abgemüht. Die beiden Spaßvögel verzogen keine Miene.
„Haben sie ihn nun erkannt? Ist einer von denen Luis?“, fragte Partner geduldig.
„Welcher darfs denn sein? Vielleicht steht was auf der Rückseite?“
„Er ist es, glauben Sie mir. Wenige Stunden nach der Tat rief er bei seinem Bruder in Wetzlar an. Er bat ihn, bei der spanischen Botschaft nachzufragen, ob gegen ihn in Deutschland etwas liefe. Und von der Botschaft haben wir dann die Fotos erhalten. Vor ungefähr einem Jahr hat er einen neuen Pass beantragt und sie dort hinterlegt.“
„Soso.“
Und mir erzählte der Sausack, seine Familie lebe in Madrid. Und überhaupt: Hörte sich hier sein Lebenslauf eventuell irgendwie anders an?
„Wir wissen, dass er Ihr flüchtiger Mittäter ist“, sagte der Pfiffige und legte mir unter leichtem Druck eine Hand auf die Schulter. „Neben den hiesigen Ermittlungen läuft noch eine andere da oben gegen ihn – wegen Scheckbetrugs.“
An dieser Stelle schloss sich für mich das Kapitel Luis.
Knapp stellte mir noch ein paar Fragen zum Tathergang und entließ mich mit den Worten: „Das Opfer hält sich derzeit bei Freunden versteckt. Er sagt, er habe große Angst.“

Copyright © 1993 - 2025 by Olaf W. Fichte, Germany. Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Der Roman Wollter beruht auf tatsächlichen Ereignissen.


Diesen Beitrag teilen
Über den Autor

Kommentare

Kommentar schreiben

Pflichtfelder sind mit einem * (Stern) gekennzeichnet.

Bitte addieren Sie 4 und 2.
(Die Benachrichtigung über neue Kommentare kann über einen Verweis in der E-Mail jederzeit beendet werden.)

Datenschutz (Auszug)

Ich freue mich über Ihren Kommentar und eine sachliche Diskussion. Insofern Sie die Kommentarfunktion benutzen, geschieht dies freiwillig. Ich erhebe und speichere für diesen Zweck Ihre E-Mail-Adresse, Ihren Namen und Ihren Kommentar. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Sie wird benötigt, um Missbrauch der Kommentarfunktion zu vermeiden. Meine vollständigen Richtlinien zur Kommentarfunktion finden Sie in meiner Datenschutzerklärung und den Nutzungsbedingungen.