Wollter

Thriller-Drama nach wahren Begebenheiten

Über den Tatsachen-Roman

Die Erlebnisse eines 16jährigen Schülers in der DDR, der aus politischen Gründen zu mehreren Jahren Haft verurteilt, inhaftiert und viele Monate in verschärfter Einzelhaft verbringen musste, sind Grundlage dieser spannenden wie auch ereignisreichen und dramatischen Geschichte des Romanhelden Wollter, der nach der Haft mit 18 Jahren gegen seinen Willen aus der DDR ausgebürgert und in die BRD abgeschoben wird. Wollter, der mit den Verhältnissen in der BRD nicht vertraut ist, der dort keine Verwandten oder Bekannte hat und dem weder Behörden noch Organisationen helfend unter die Arme greifen, findet nur Anschluss zum kriminellen Milieu. Er wird verhaftet und kann - sarkastisch gesagt - nun Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen DDR-Knast und BRD-Strafvollzug am eigenen Leibe erleben.

Der erfolgreiche Roman Wollter ist ein rasanter Thriller, dessen Haupthandlungen sich in der Zeit von Mitte der 1970er Jahre bis Ende der 1980er Jahre ereigneten.

Ein überaus intensives Leseerlebnis bietet Ihnen das Thriller-Drama Wollter.
Gebundene Ausgabe

Wollter

Thriller-Drama von

Olaf W. Fichte

Wollter: Zweiter Teil

Autor: Olaf W. Fichte (Kommentare: 0)

Während sich die Mehrheit mitten im Vollrausch der Pubertät befand, glitt ich zufällig - oder vielleicht auch nicht - genau an diesem Tag charmant und leichtfüßig über die viel gepriesene Schwelle zur Volljährigkeit. Doch irgendwie wollte es mir nicht so richtig feierlich ums Herz werden. Mag sein, es lag daran, dass noch fünfundvierzig Monate vor mir lagen. Kein Pappenstiel, aber mir machte das alles überhaupt nichts aus. Natürlich nicht!

Festgenommen wurde ich übrigens auf der Herrentoilette des Dresdner Hauptbahnhofs. Drei Monate später verurteilte mich ein Jugendschöffengericht des Bezirksgericht Dresden Nord wegen versuchter Republikflucht zu sechzig Monaten Jugendhaft. Den Qualm verdankte ich den Aussagen zweier Klassenkameraden. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es keine x-beliebigen, sondern wirklich dicke Schulfreunde waren.

***

Acht Tage verbrachte ich mit Nichtstun auf der Zugangsabteilung, während deren die Leitung knobelte, auf welche Gruppen sie uns neun Neuzugänge am zweckmäßigsten verteile.

Als ehrlicher und unaufdringlicher Junge, der ich nun einmal war, sagte ich ihnen, um Missverständnissen vorzubeugen, gleich am ersten Tag, was ich von ihnen hielte und sie mich höflicherweise könnten, wenn ihnen mal danach sei. Da mussten sich die Herrn aber erschrocken haben, denn sie knobelten und knobelten, knobelten und knobelten - oder taten jedenfalls so. Reine Zeitverschwendung, denn ich wiederholte nur, was ich drei Wochen zuvor auch schon meinen Verurteilern anbot.
Ihr Ergebnis blieb ohne Alternative und nannte sich verschärfte Einzelhaft. Eine ebenso umständliche wie blöde Bezeichnung für ein simples Fingerschnippen.

Zum Davonlaufen! Irgendwas oder irgendwer moderte vor sich hin. Die Luft stand - und ich mittendrin, nackt vor dem Tresen der Effektenkammer auf dem schummerigen Dachboden des zweistöckigen Häuschens, nur wenige Schritte von der Zugangsabteilung über den Hof. Und plötzlich fror ich. Mir wurde kalt, richtig furchtbar kalt. So kalt, dass ich... dass mir ... Oh, nein! Ich hob den Kopf, schlug die Backenzähne fest aufeinander und verzog mein Gesicht zu einer Miene, die ausdrücken sollte, „Wer jetzt Witze macht ...“ Den Rest schenkte ich mir. Keiner interessierte sich für meine Gedanken. Also änderte ich die Zielrichtung und dachte ungeniert weiter. Ich schrie, oder besser, ich flehte in mich hinein: „Komm schon, komm schon.“ Er hatte sich verkrochen, so klein gemacht, dass eine halbe Walnussschale genügte, ihn unsichtbar werden zu lassen. „Jetzt wird nicht Verstecken gespielt. Hör auf damit! Mach mir keinen Ärger. Bitte, bitte!“ Wie beiläufig sah ich auf die verstreut am Boden liegenden Kleidungsstücke, die ich auf Zugang habe tragen müssen, streifte ebenso beiläufig über die Stelle, an der ich ihn vermutete, doch schien es, als habe ich ihn nun erst recht eingeschüchtert. Von Begeisterung jedenfalls keine Spur. „Tu mir das nicht an. Komm her, Mann!“ Nichts. Er regte sich nicht. „Willst du wohl!“ Nichts. „Wie du willst. Fortan sollst du fahnenflüchtiger Karottenstumpf Hermann heißen“, knurrte ich und griff geschwind nach der Unterhose. Mit unruhigen Fingern riss ich sie vom Tresen und schlüpfte hinein. Schon wärmer. Sehr viel wärmer. Weniger hastig streifte ich den dünnen, ausgewaschen blauen Overall, den mir einer der drei Kammerkalfaktoren reichte, über, schnürte die ausgetretenen, absatzlosen schwarzen Halbschuhe an mir fest und schob das dunkelblaue Schiffchen entsprechend der Anstaltsordnung vorschriftsmäßig auf den Kopf. Nur natürlich viel lässiger.

Kaum eine Armlänge entfernt stand Oberleutnant Borrmann zu meiner Linken und betrachtete mit wissenschaftlichem Forschungsdrang seit einer viertel Stunde stumm seine Fingernägel.
Er und zwei Schlüsselschwinger brachten mich vom Zugang hierher. Beim Überqueren des Hofes stellte sich mir Borrmann als Erzieher jener Gruppe vor, derer ich zugeteilt wurde, weil nun einmal jeder Jugendliche einer Gruppe zugeteilt werden müsse.

Meine erste Begegnung mit ihm lag einen Tag zurück. Beim Zugangsgespräch, im Aufenthaltsraum der Zugangsabteilung, gehörte er der fünfköpfigen Kommission an. Sie saßen vor rot-weiß gekästelten Gardinen hinter Schultischen. Ich stand und erzählte bruchstückhaft von meiner Verurteilung. Lust hatte ich keine, fast alles stand in meiner Akte. Was nicht darin stand, ging sie auch nichts an. Sie fragten nach meiner Familie, wie ich so in der Schule und beim Sport gewesen sei; welche Pläne ich für die Zeit nach meiner Entlassung habe und ob ich eine Freundin hätte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, sie wollten mich verarschen. Ich wurde sauer und fragte, ob ich denn wenigstens früher rauskäme, erzählte ich ihnen schlüpfrige Geschichten. Daraufhin bot mir einer „eine Kräftige auf mein großes Schandmaul an“ und Borrmann, der, während der zehnminütigen Aushorche regungslos aufrecht auf seinem Stuhl saß und einen blauen Kugelschreiber, den er wie eine Zigarette zwischen den Fingern der rechten Hand hielt, inspizierte, fragte mich, ohne den Blick vom Studienobjekt abzuwenden, nach den Gründen, die zu meiner Festnahme führten.

Gründe? Welche Gründe? Sieben unscheinbar gekleidete Herren nahmen meine beiden Freunde und mich auf dem Bahnhof fest. Schleiften uns vom Pinkelbecken weg. Dabei taten wir nichts Unrechtes, standen einfach nur da, pinkelten, rauchten und amüsierten uns über anstößige Kritzeleien an den Kacheln vor uns.
Zuerst dachte ich an Kinderräuber oder so was, brachte meine Fäuste in Position und brüllte: „Ich darf nicht mit fremden Männern mitgehen!“. Doch die Kinderräuber waren schneller, warfen sich auf mich und legten mir eine Acht an. Die erste Acht in meinem Leben. Und die war wirklich total echt. Gott, war ich stolz auf das Ding. Ich verdrehte den Kopf, sah in die Leidensmienen meiner Freunde, hob die Hände wie zum Gruß - Hunderte kleiner Blitze schossen über meine Acht hinweg - und rief ihnen zu: „Jetzt sind wir wer!“
„Halt die Luft an!“, befahl irgendeiner hinter mir.
Jetzt war ich mir ganz sicher, dass die Kinderräuber Abgesandte der Staatsmacht waren.
„Seht her, sie haben Angst!“, sagte ich laut und lachte vergnügt.

Weit nach Mitternacht, die Vernehmungen waren abgeschlossen und meine Freunde nach Hause geschickt, stellten sie mir meinen Hauptgewinn zu. Beide hatten unabhängig voneinander Protokolle unterschrieben, in denen es hieß, ich habe die Absicht geäußert, die Deutsche Demokratische Republik illegal zu verlassen. Ein gewöhnliches, sieben Zentimeter kleines Klappmesser, das ich immer bei mir trug, und wie es sich vermutlich in der Hosentasche jedes Sechszehnjährigen gelernten DDR-Bürgers finden ließ, untermauerte ihre Behauptung und brach mir schließlich das Genick.
Es war mir egal. Ich war hungrig und immer wieder fielen mir die Augen zu.
Versuchte Republikflucht unter Anwendung einer Waffe, nannten sie es. Ganz was Schlimmes. Sie meinten bestimmt nicht mich.

Meinten sie doch. Denn nun stand ich vor Borrmann und schob mit beiden flach aufgelegten Händen mein Schiffchen noch eine Idee in Richtung rechtes Ohr. Borrmann zupfte unsichtbare Fussel von seiner dunkelblauen Uniform und sagte: „Das haben allein Sie sich zuzuschreiben. Denken Sie mal nach. Sie machen alles nur noch schlimmer als es ohnehin schon ist. Kommen Sie zur Vernunft.“

Ohne es rational begründen zu können, war mir Borrmann auf Anhieb irgendwie, na ja, sagen wir mal, jedenfalls nicht so richtig ganz sympathisch. Und doch fühlte ich mich von diesem schlanken Mittdreißiger angezogen. Sein babyarschglattes, urlaubsgebräuntes Gesicht allein konnte unmöglich diese Kraft erzeugen. Dazu wirkte es zu weich, zu anfällig. Woraus schöpfte dieser Teufel? Wurde ich Opfer seiner aufgesetzt abweisend, desinteressiert gelangweilten Art und vielleicht auch der überdeutlichen, jedes Wort betonenden, leisen, hinterhältigen Sprache?

Quatsch nicht rum, mach die Tür auf.
„Ich bin müde“, sagte ich schnippisch, langte nach der übelriechenden, braunen Pferdedecke auf dem Tresen; klemmte das kratzige Ding unter den rechten Arm, steckte beide Hände in die Taschen des Overall, drückte mich am fusselsuchenden Borrmann vorbei und folgte den beiden Obermeisterdienstgraden die Holztreppe hinunter und über den Hof in ein kleines, frei stehendes, einstöckiges gelbes Gebäude.
Ich meine natürlich ein Gartenhäuschen. Hängepetunien bepflanzte Blumenkästen suchte ich zwar vergebens, doch fiel mir im entzückend kleinen Vorraum gleich die Schreibblockgroße Glasscheibe im Mauerwerk zu meiner Rechten auf. Eine wirklich durchdachte Lösung. Öffnen ließ sie sich nicht, dafür aber hatten durchblickende Aufseher eine nur anderthalb Meter entfernte, Ocker Farbe abstoßende Wand vor sich. Und beugten sie sich dann nach vorn und drehten den Kopf mal nach links, mal nach rechts, kamen sogar noch die Eingangstür und bestimmt zwei Zellentüren hinzu.
Locker schlenderte ich durch den Vorraum auf einen quer verlaufenden fensterlosen Flur. Er lag im Halbdunkel. Das lustlose Glühlämpchen aus dem Vorraum brachte keine Erleuchtung. Es tat sich schwer, vielleicht wollte es auch keinen Schritt um die Ecken wagen. Ich atmete flach in kleinen Häppchen. Zunächst glaubte ich, einer der Schließer habe einen mächtigen Koffer abgestellt, doch hier hinten wurde aus dem Koffer die Gepäckabfertigung eines internationalen Flughafens. Ich dachte nicht weiter nach und atmete mehrere Male tief ein. Mein Brustkorb blies sich auf wie ein Ballon, der, ließe man ihn gewähren, im nächsten Augenblick die ihm eingepresste Luft mit hohem Druck angewidert ausstieß.

Als Kinder spielten wir oft in der Kanalisation unserer Stadt. Manchmal Verstecken, meistens aber erschlugen wir Ratten. Übler Fäkaliengestank war mir nicht fremd, es befremdete mich nur, ihn nun auch in der Wohnung zu haben.
Sechs pedantisch ausgerichtete dunkelbraune Zellentüren verteilten sich wie Pferdeboxen über die gesamte Breite des Gebäudes.
„Links! Leg die Decke hintn aufn Haufn drauf!“, befahl mir ein übergewichtiger Schließer.
Gehorsam trabte ich die sechs Meter bis zum Ende des Gangs. Unmittelbar neben der Zelle mit der schwarzen Nummer eins auf der Tür türmten sich zwei Stapel Seegrasmatratzen auf. Der eine mit neun, der andere mit sechs dieser, selbst in mattem Licht gut erkennbaren, versifften Teile. Auf dem kleineren Haufen machte ich etwas aus, das ich für zwei ordentlich zusammengelegte Pferdedecken hielt. Ich nahm die Hände aus den Hosentaschen und warf meinen Lappen achtlos dazu.
„Mach das anständig, du Sackgesicht!“
Ich tat einfach so, als hätte ich ihn nicht gehört. Überlegte es mir aber anders, als mich sein Bummi mit voller Wucht auf dem Rücken traf und mich ein furchtbar lästiger Schmerz zusammenfahren ließ.
„Los, anständig die Decke da drauf, sonst setzt's noch was!“
Danke für den freundlichen Hinweis. Schon überredet. Lächelnd nahm ich sie auf, legte sie ordentlich zusammen und zurück auf die beiden anderen.
„Geht doch. Man muss bei euch Gesindel nur etwas nachhelfen. Komm, hier geht’s rein, du Schwein!“
Gib mir für eine Minute deinen Bummi; nur eine Minute - und ich zertrümmere dir deine aufgeschwemmte Visage. Mit funkelnden Augen drehte ich mich eine halbe Drehung nach rechts, musterte das Grinsen im feisten Gesicht des Schließers, der abwartend neben der geöffneten Tür lauerte, und sagte: „Nach Ihnen, Herr... äh?“
„Rein ins Loch!!!“, schrie das Ferkel mit hochrotem Kopf.

Copyright © 1993 - 2024 by Olaf W. Fichte, Germany. Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Der Roman Wollter beruht auf tatsächlichen Ereignissen.


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