Wollter

Ein Roman nach wahren Begebenheiten

Über den Tatsachenroman

Die Erlebnisse eines 16jährigen Schülers in der DDR, der aus politischen Gründen zu mehreren Jahren Haft verurteilt, inhaftiert und viele Monate in verschärfter Einzelhaft verbringen musste, sind Grundlage dieser spannenden wie auch ereignisreichen und dramatischen Geschichte des Romanhelden Wollter, der nach der Haft mit 18 Jahren gegen seinen Willen aus der DDR ausgebürgert und in die BRD abgeschoben wird. Wollter, der mit den Verhältnissen in der BRD nicht vertraut ist, der dort keine Verwandten oder Bekannte hat und dem weder Behörden noch Organisationen helfend unter die Arme greifen, findet nur Anschluss zum kriminellen Milieu. Er wird verhaftet und kann - sarkastisch gesagt - nun Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen DDR-Knast und BRD-Strafvollzug am eigenen Leibe erleben.

Der erfolgreiche Roman Wollter ist ein rasanter Thriller, dessen Haupthandlungen sich in der Zeit von Mitte der 1970er Jahre bis Ende der 1980er Jahre ereigneten.

Ein überaus intensives Leseerlebnis bietet Ihnen das Thriller-Drama Wollter.
Gebundene Ausgabe

Wollter

Thriller-Drama von

Olaf W. Fichte

Wollter: Der Anfang

I

Die Luft war trocken, es roch nach altem Papier und Körperausdünstungen, aber auch nach einer Spur Tod, die mehr und mehr nahte, sich verdichtete, aus dem Nebel trat und mich für den Bruchteil eines Augenblicks meine Blähungen vergessen und auf das Entfalten dieser zaghaften Knospe hoffen ließ. Doch sie lebte nicht - und ich hörte wieder das Lachen. Ein bitteres, ein böses Lachen. Und sie lachten und lachten. Es nahm kein Ende. Meine Ohren dröhnten, Wut verfärbte sie purpurn.

In einer lächerlich wirkenden Pose hing ich wie ein dahingeworfenes, kunstvoll gefaltetes Gästehandtuch auf einem unbequemen, harten Holzstuhl und sah mit seitlich verdrehtem Kopf zu ihnen auf. Mein Hals signalisierte Schmerz, aber sonst empfand ich nichts. Speichel mit dem Geschmack erdbeersüßer Mordgier sammelte sich auf meiner Zunge und seilte sich über den rechten Mundwinkel zwischen meinen Oberschenkeln zum Boden ab. Ohne mit der Wimper zu zucken hätte ich aufspringen und beide gleichzeitig erwürgen können. Den einen mit der Linken, den anderen mit der Rechten - und schnapp! Würgend ihr abstoßendes Hohn lachen zerquetschen. Ein für alle Mal die längst fällige abgestandene Luft aus ihnen lassen.

Jesus, hatten die ein verdammtes Glück, dass ich mich zurückhielt. Na ja, genau genommen war ich zwangsgehemmt und tat mich deshalb bei der Umsetzung meines Vorhabens etwas schwer. Kräftig genug war ich wohl, allein die Beherrschung zu verlieren, gelang mir nicht.

In weiser Voraussicht legten mir die beiden Rohlinge Handschellen an, führten sie um ein Tischbein herum und zerrten meinen Stuhl einen halben Meter nach hinten weg, so dass mein Kopf auf die Knie nickte und sich mein Hintern in Windeseile auf der abgerundeten Kante des Stuhls Halt suchend ausbalancierte. Es drückte ein wenig quer, möchte ich mal sagen. Vorbei mit aufrecht sitzen. Gepflegter Rundrücken war angesagt. Ganz klar, dass sie so ungestraft ihre Späße mit mir treiben konnten.

Die Situation war mir nicht ganz neu, die Haltung dagegen schon. Äußerlich regte sich kein Muskel an mir, weil diese Begebenheit eben nichts grundlegend Neues offenbarte und meine gewöhnungsbedürftige Pose kein schmerzloses Muskelspiel zuließ.
„Wollte er oder wollte er nicht?“
„Der Butler wollte!“
„Nein, nein, James wollte nicht!“
„Doch! Er wollte, konnte aber nicht!“
Wie spaßig! So ging es in einem fort. Ich bin beileibe kein Kostverächter, leihe einem anständig schmutzigen Witz gern beide Ohren, aber mein Verständnis für solcherart Humorausbrüche hat Grenzen. Wenn ich etwas wirklich nicht ausstehen kann, dann sind es zusammengeschusterte, völlig deplatzierte Witze ohne Pointe. Wie nennt man eigentlich den Witz eines Witzes? Staats-Diener?

Ja, ich heiße James Wollter - na und?
Und damit auch das gleich geklärt ist: Ich bin weder Butler noch Komiker - und war es auch nie.

Geboren wurde ich als kleines rotes, vom Ast gepurzeltes Käfigkind; war hässlich wie ein Teller Hafergrütze und zu allem entschlossen.
Heute ist das alles anders.

Aber der Reihe nach.

II

Eifrige Geschäftigkeit deutete am Nachmittag dieses 26. Oktober im Nürnberger Polizeipräsidium Feierabendstimmung an. Türen knallten, irgendwelche Menschen stürzten durch schmucklose Gänge; rempelten uns an, grummelten, ohne aufzusehen, und hasteten weiter durchs grelle Neonlicht in die Nächsten hinein.
Merochs und sein Partner zerrten mich an einer Handschelle hinter sich her zur erkennungsdienstlichen Behandlung, wie sie die Schweinereien mit einer Farbe, die zu lösen mir erst beim siebenden Waschgang glückte, verhüllend umschrieben. Mit geübter Hand rollte Merochs die angeschwärzten Fingerkuppen meiner Hände über weißes Papier.
„Warum haben Sie sich freiwillig gestellt?“
Fasziniert sah ich auf die Hinterlassenschaften meiner Finger und Handflächen in den schwarz geränderten Feldern.
Ob man das verkaufen kann? Bestimmt. Musst nur einen finden, der sich freut und dafür löhnt, dann ist es Kunst und teuer.
So viele kleine Kringel zählt also ein Verbrecher. Doch eigentlich war ich ja gar kein Verbrecher, nur eine Nummer. Zwölf Kästchen mit den Kringeln einer Nummer. Nummern begehen keine Verbrechen.
„Sie müssen nicht antworten. Ihre Vernehmung wird erst in München stattfinden. Wir sind nur neugierig. Es ist nun mal nicht alltäglich, dass sich einer wie Sie stellt.“
Einer wie ich? Hohoho! Wohl Autogrammjäger? Ich unterließ es, vor den beiden meine Gründe auszubreiten. Wie sollten ausgerechnet zwei trieblose K 21-Bullen meine Beweggründe verstehen, war ich mir doch selbst nicht mehr sicher, warum ich es tat und weshalb mich mein Weg der letzten Wochen bis zu diesem Tisch führte. Einerseits hegte ich Zweifel, andrerseits war ich recht froh und auf eine eigenartig traurige Weise erleichtert.
Bei der sich anschließenden Fotosession bewerkstelligte es Merochs Juniorpartner nicht, den Film manuell zu transportieren. Technik zum Schmunzeln. Ich war sehr gespannt, zu sehen, wie ein Profi einen echten Harakiri hinlegt. Früher mal sah ich das in einem Film. War nicht sehr appetitlich. Aber hochinteressant. Eigentlich könnte er mir die kleine Freude machen.

Unablässig stieß mein Seppukuanwärter unflätige Flüche aus und zitterte mit fiebrig langen, spindeldürren Fingern um das zarte, schutzlose schwarzsilbrige Gerät, bis er beschloss, dem Japaner mit deutscher Geduldsamkeit zu begegnen. Und, siehe da, schon nach zwanzig Minuten hatte er meine drei Fotos im Kasten und befahl mir entnervt, zu jenem Tischchen zu gehen, an welchem ich zuvor - wie wir in Fachkreisen zu sagen pflegen - Klavier spielte.

Lustlos tapste ich die fünf Schritte am Kameraständer vorbei zum Tisch und sah mich fragend nach ihm um.
„Setzn!“
Wenn du meinst.
Junior kniete neben mir nieder, löste routiniert wie ein alter Bulle die Handfessel von meinem linken Handgelenk, forderte mit einem kräftigen Ruck meinen rechten Arm zum Nachgeben auf, führte den blitzenden Stahl um das angeknabberte linke Tischbein herum und ließ ihn wieder an meinem Handgelenk einrasten.

Huch, mächtig verkeimt hier unten, war das Erste, was mir nach dem unvermittelten Hechter durch den Kopf ging. Und das Zweite: Sieht so der Dank für meine Reserviertheit aus? Keinen Mucks gab ich von mir, als du mit dem Japaner kämpftest. Gelangweilt sah ich zur Decke, tapfer hielt ich geistreiche Bemerkungen nieder und tötete den aufsteigenden, quälend drängenden Lachkrampf ab.

Alles weitere ist bereits bekannt.

Sie drehten mir ihre Rücken zu, schaukelten sich hoch und ich kaute an meiner Wut. Schmerzliche dreißig Minuten vergingen, dann endlich nahte die Erlösung. Zwei Uniformierte schoben sich in den Raum, als müssten sie ihren Körpern vor jeder Bewegung gut zureden. Der eine lüpfte seine Schirmmütze und wischte sich mit dem Handrücken über die trockene Stirn; der andere hielt sich die Dunstkiepe vors Gesicht und gähnte angestrengt.
Danach ging alles sehr schnell. Sie wickelten mich vom Pflock - und Schwups fand ich mich auf einem muffigen Zellentrakt im Keller wieder.

Mitten auf dem Gang saß ein Doppelpack in Grün an einem kümmerlichen Tischchen und füllten mit heraushängender nachdenklicher Miene irgendwelche Formulare aus. Vielleicht verfassten sie auch Lyrik oder hakten den Speiseplan ab, so genau habe ich das aus drei Meter Abstand nicht erkennen können. Es erschien mir auch nicht so wichtig.
Mein müder Begleiter stupste mir in die Seite und befahl mit schleppendem Stimmchen, all die guten Sachen aus meinen Taschen vor den beiden Gelehrten auszubreiten. Artig kam ich seinem höflich vorgetragenem Wunsche nach. Ich war heilfroh, keinen Striptease hinlegen zu müssen. In ihrem Verlies zog es fürchterlich.

Während einer der Protokollführer meine Habseligkeiten, die aus einem silbernen Drehkugelschreiber, einer silbernen Halskette mit silbernem Wassermannanhänger, einem silbernen Dupont-Feuerzeug, einem silbernen Zigarettenetui, einer silbernen Handgelenkkette und einem schwarzen Ledergürtel mit silberfarbener Schnalle bestanden, und von denen ich mich nur schweren Herzens trennte, lieblos in einen hundekotbraunen Karton mit dem vielsagendem Schriftzug „Erdbeer-Konfitüre“ warf, zählte sein Kollege meinen unermesslichen Reichtum. Bei 20,49 DM brach er ab und übertrug die Zahlen akkurat mit ruhig geführter Schönschreibschrifthand in ein eigens dafür entworfenes Formblatt.

Nicht zu glauben, der andere schleuderte mein Geschmeide doch tatsächlich in einen klebrigen Marmeladentrog. Ja, und außerdem war das Ding auch noch viel zu groß. Doch ich hielt mich zurück, schlug die Zähne aufeinander und verfolgte mit geballten Fäusten in den Hosentaschen die Flugbahn meiner Kleinodien. Die grünen Männlein waren in der Übermacht.

Nichts von alldem würde ich vor meiner Entlassung wieder zwischen die Finger bekommen, so der psychologisch schwergewichtige Einschüchterungsversuch des Schmuckweitwerfers. Die paar Tage, dachte ich, und fühlte mich schlagartig besser. Hastig warf ich Blicke über das Papier. Sie drängelten, hätten noch Wichtigeres zu tun.
„Aus Gründen, die zur Schädigung von Leben und Gesundheit sowie zur Beschädigung fremder Sachen geeignet seien“, las ich und kritzelte ein halbes Dutzend Mal meinen Namen. Deshalb also. Natürlich sah ich nun ein, dass die Formalitäten unerlässlich waren.
Aber ließe sich dieses zweckmäßig formulierte, dieses verspielte und zugleich kesse Sprüchlein nicht auch als Warnhinweis an Fußbälle, Biergläser oder Automobile anbringen? Und weshalb, fragte ich mich weiter, beließen sie mir ausgerechnet die Schuhbänder? Sollte ich sie darauf hinweisen? Oder kommentarlos auf den Tisch legen? Nein, nein, sie hatten Wichtigeres zu tun.

Auf dem Weg zur Schlafstelle, so an die sechs Meter den Flur entlang, beschlich mich im Duster der Kellergewölbe ein Gefühl der Bedeutungslosigkeit. Ohne netten Plausch löste sich unsere heitere Männerrunde auf. Meine Konversationsbestrebungen ignorierend, bohrte einer der Sheriffs in der Nase. Er bohrte tief, wurde aber nicht fündig, so dass er den Meißelrhythmus intensivierte, was verständlicherweise keinen Dialog mit mir zuließ. Die anderen drei taten es ihm zwar nicht nach, folgten jedoch seinen Bemühungen mit verstohlen neugierigen Blicken, so als erwarteten sie nach dem Heben das Aufteilen außergewöhnlich seltener Fundstücke.

Blitzartig durchfuhr mich das Entsetzen. Ich hätte wissen, daran denken müssen, dass so etwas geschehen konnte, bevor ich den wahnwitzigen Entschluss fasste, mich auszuliefern. Mir schauderte, meine Hände zitterten, Schweiß ergoss sich über meinen Körper und mein Magen wollte unbedingt noch einmal herzeigen, was ich ihm vor Stunden zuführte. Unbeweglich stand ich da, starrte hinauf in das fahle Licht der nackten, sich schamhaft in einer kleinen, quadratischen Vertiefung über der Tür versteckenden Glühlampe.

Hilfesuchend umklammerten meine eiskalten Hände die Gitterstäbe, wurden feucht und glitten an ihnen hinab. Tränen tauchten meine Perspektive unter einen dichten Schleier. Und irgendwo - weit, sehr weit weg - sah ich ein sanftes weißes schimmern um ein verschwommenes dunkles Nichts.
„Wie spät?“, fragte ich leise den Geologen.
„Nach sechs“, beschied er mürrisch, schlug das Eisengitter und kurz darauf die schwere Zellentür ins Schloss.

III

Verstört warf ich den Kopf herum. Angst trocknete meine Augen. Scheppernd verhakte sich sein hässliches mausgraues Maul, rastete ein, verband sich mit der umlaufenden Mauer zu einem Ganzen. Kein Entrinnen. Ich fühlte mich beengt und bedroht. Auf puddingweichen Knien wankte ich durch den Schlund der Hoffnungslosigkeit, als folge ich einem gespannten Gummiband. Was mich antrieb, ich kann es nicht sagen. Oder doch: Eigentlich trieb mich nichts, ich wurde getrieben.

Wieder dieses Zucken. Kalte Blitze durchfuhren alle Glieder. Mein Körper bebte, doch sah ich mich nicht um, als das zweite stählerne Schleusentor sein meterhohes gefräßiges Maul schloss, mich gefangen nahm, würgte und verschlang. Ich sah nach vorn und mir wurde kotzübel.
Die Sonne schien, prasselte unbarmherzig auf mich hernieder. Ein wunderschöner Tag für ein Picknick im Grünen. Und höllisch heiß für einen Tag Anfang Februar. Ich schwitzte nicht. Warum wurde es nicht dunkel? Kommt wohl noch. Bitte etwas Regen, nur einen kühlenden Schauer. Wer friert, lebt. Ich fror nicht.

***

Erst neun Monate lag das zurück. Fast auf den Tag genau. Bevor ich an diesem freundlichen Februartag durch das Haupttor der Jugendstrafanstalt in Ichtershausen, einem ehemaligen Kloster, das irgendwann korrigiert wurde, schlenderte, drückte ich mich fünfzehn Monate in verschiedenen volkseigenen Gefängnissen herum.

Ichtershausen war nicht irgendein Jugendknast. Wen die Justiz des Arbeiter- und Bauernstaates hierher karrte, der war entweder Gewaltverbrecher oder Wiederholungstäter. Schon mit fünf Jahren war man dabei und durfte sich unter Mörder, Bankräuber und auch Republikflüchtlinge mischen; sie sogar als Freunde gewinnen, wenn man was Anständiges vorzuweisen hatte.

Copyright © 1993 - 2024 by Olaf W. Fichte, Germany. Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Der Roman Wollter beruht auf tatsächlichen Ereignissen.

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