Wollter

Thriller-Drama nach wahren Begebenheiten

Über den Tatsachen-Roman

Die Erlebnisse eines 16jährigen Schülers in der DDR, der aus politischen Gründen zu mehreren Jahren Haft verurteilt, inhaftiert und viele Monate in verschärfter Einzelhaft verbringen musste, sind Grundlage dieser spannenden wie auch ereignisreichen und dramatischen Geschichte des Romanhelden Wollter, der nach der Haft mit 18 Jahren gegen seinen Willen aus der DDR ausgebürgert und in die BRD abgeschoben wird. Wollter, der mit den Verhältnissen in der BRD nicht vertraut ist, der dort keine Verwandten oder Bekannte hat und dem weder Behörden noch Organisationen helfend unter die Arme greifen, findet nur Anschluss zum kriminellen Milieu. Er wird verhaftet und kann - sarkastisch gesagt - nun Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen DDR-Knast und BRD-Strafvollzug am eigenen Leibe erleben.

Der erfolgreiche Roman Wollter ist ein rasanter Thriller, dessen Haupthandlungen sich in der Zeit von Mitte der 1970er Jahre bis Ende der 1980er Jahre ereigneten.

Ein überaus intensives Leseerlebnis bietet Ihnen das Thriller-Drama Wollter.
Gebundene Ausgabe

Wollter

Thriller-Drama von

Olaf W. Fichte

Wollter: Zehnter Teil

Autor: Olaf W. Fichte (Kommentare: 0)

Nahm das denn nie ein Ende? Den Tränen nahe – nur nahe, schließlich wohnte wer nebenan – sank ich zu Boden und rollte mich ein.
Was tust du? Ich weiß, was ich tue. Und was? Leck mich! Was willst du? Wer will das schon wissen. Ich. Lass mich in Ruhe. Ja, was nun? Darüber denke ich nach, wenn ich darüber nachdenke.
Ich ruhte nur kurz, spürte die Kälte noch nicht an meinem Körper nagen, als mich Klausi und zwei seiner Getreuen aufscheuchten. Die Grobiane klammerten sich an meinen Armen fest und lenkten mich wie einen aufmüpfigen Alten, der prinzipiell bei Rot die Straße quert, über den Hof. Und meine Hose war voll, quoll über. Nicht wirklich, aber viel fehlte nicht.
Erst nachdem ich ausgiebig mit warmem Wasser geduscht und statt des stinkenden Overalls in ein frisches, nicht mehr ganz weißes, bretthartes Nachthemd schlüpfte, war ich mir sicher, auf der Krankenstation angekommen zu sein. Es war ausgestanden. Vorbei. Doch reichte es nicht zu einem Freudentanz.
Möglicherweise lag die Zeit der Einzelhaft hinter mir, wie aber entkam ich dem Nachschlag?

Nach über sechsmonatiger Abgeschiedenheit fiel es mir keineswegs leicht, einen Zellengenossen zu akzeptieren. Auf dessen Geschwätzigkeit einzugehen schon gar nicht. So glücklich ich war, der zermürbenden Unterwelt entronnen zu sein, sosehr vermisste ich deren Ruhe, die zu durchbrechen zum einschneidenden Nervenkitzel geriet. Also nahm ich sie mir und sah über das im Bett über mir, dessen Namen ich nicht kannte und nicht kennen wollte, hinweg, schluckte irgendwelche bunten Pillen, salbte mehrmals täglich meinen Body und vergrub mich ansonsten hinter einer Zeitung oder einem Buch.

Anfang September, es war, um genau zu sein, der neunte Tag des Monats, wirbelte ein Schließer herein.
„Pack dein Zeug, Wollter! Und mach hin!“
Recht junger Spund, der Hauptwachtmeister. Ich kannte ihn nicht, wahrscheinlich frisch. Die frischen machen immer Hektik.
Ich lag mit einem Buch im Bett und genoss den zehnten meiner aufbauenden Tage auf Revier.
„Brust!“
„Auf, auf! Mach schon! Zur Kammer!“
Ich federte hoch und hielt mich am Waschbecken fest, um ihm nicht in die Arme zu fallen.
„Auf Kammer?“
„Ja! Wirst abgeholt. Die warten schon. Mach jetzt endlich hin! Gib Gas, wir haben nicht viel Zeit.“
Abgeholt? Sagte er, abgeholt?
„Abgeholt?“
Er nickte und mir wurde übel. Mein Magen verkrampfte sich, entspannte sich, ich drehte den Kopf nach links, senkte ihn und fütterte den aufgerissenen verchromten Schlund mit meinem halb verdauten Frühstück. War eh nicht so berauschend.

Fünfzehn Minuten später standen wir vor der Tür, die zur Kammer führte und ich fragte ihn, wer mich abhole – und wohin die Reise gehe. Es war nicht übermäßig warm an diesem Tag, aber ich schwitzte wie in einem kirgisischen Dampfbad. Er schob einen seiner Schlüssel ins Schloss, hielt inne und sah sich prüfend um.
„Das darf ich nicht.“
„Tuuu... tun Sies doch einfach.“
„Nein, kann ich nicht tun. Melde dich oben“, sah mir in die Augen und lächelte milde, „wird schon nicht so schlimm werden. Gute Reise!“

Ohne Eile stieg ich die quietschende Holztreppe empor, meldete mich und erhielt die bereitliegende Kleidung, die ich vor ewigen Zeiten, damals auf dem Bahnhofsklo und später bei der Aburteilung trug, über den Tresen geschoben.
„Zieh dich um!“, sagte der kleine, weißhaarige Kammerbulle und musterte mich neugierig.
„Kannst dich jetzt von Ichtershausen verabschieden. Wahrscheinlich wirst du’s nie wieder zu sehen bekommen“, fuhr er geheimnisvoll fort.
Ich stieg aus der Unterhose und warf erschrocken den Kopf hoch.
„Was soll das hei... hei... heiiiißen?“
Daraufhin hielt mir der Kurze einen Vortrag über seine zahlreichen, verdienstvollen, anstrengenden, aber auch schönen Jahre, die er in diesem Jugendknast verbrachte. Offenbar gab es da einige, die sesshafter waren als ihre Kundschaft. Noch nie sei einem der Jugendlichen gelungen, was mir gelang. Bestimmt sei es nicht immer einfach für mich gewesen. Er respektiere meine Willenskraft, wenn er auch nicht befürworten kann, was ich tat.
Halt dein dummes Maul! Ist doch wahr. Dieser hinterhältige Wicht wollte mich quälen, sonst nichts. Er faselte und faselte und rückte einfach nicht raus, was mir so Großartiges gelang. Dabei hätte ich so gern gewusst, was ich immer schon erreichen wollte.

Wie wohltuend der bloße Akt des Überziehens meiner Privatkleidung. Ich fühlte mich frei und überhaupt nicht hilflos gefangen. Energiegeladen trat ich gegen die Anstaltswäsche, winkte den Kalfs zum Abschied und zwinkerte selbstbewusst dem Alten zu. Der wünschte mir Glück, doch ich beachtete ihn nicht weiter und folgte dem Schließer, der kam, um mich zu holen.
Aufrecht gehend überquerte ich den Hof, sah mich nach allen Seiten um, doch da war niemand, von dem ich mich hätte verabschieden können. Vielleicht aber doch, verborgen hinter einem der Fenster. Ich blieb stehen, drehte mich dem großen gelben Haus zu, hob die Arme und schrie: „James wird abgeholt! Sie bringen mich weg!“

„Schnauze!“, fuhr mich der Schließer an, den Bummi in der Hand.
Ich kannte diese Schnauze, und ich kannte den Bummi zur Stimme, und ich hielt meine Schnauze. Wo er recht hat, soll ihm auch nicht widersprochen werden. Was ich sagen wollte, wurde ich los. Und die Kammerkalfs würden schon dafür sorgen, dass jeder, auch Sandro, die Neuigkeit erfährt.
Schmunzelnd folgte ich dem schmalen Rücken durchs Verwaltungsgebäude, bog nach ihm links ab und verließ es vor ihm.

In der Schleuse traten zwei scharf gescheitelte Herren von einem Fuß auf den anderen. Sie trugen dunkelblaue Präsent-20-Anzüge und hielten sich auch sonst für etwas Besonderes. Während sich einer überschwänglich, für was auch immer beim Schläger bedankte, wandte sich der andere an mich.
„Steigen Sie bitte ein“, sagte er, ohne mich anzusehen und unterstrich seine Worte mit einer zuvorkommenden, widerwärtig geckenhaften Handwedelbewegung. Meine Augen folgten der unruhigen Hand und ... Bitte nein! Bitte, lasst es nicht sein. Äußerlich kraftstrotzend, innerlich dem Ertrinken nahe, musterte ich den fünf Schritte entfernten mausgrauen Barkas.

Im Sog in die Tiefe, zwei Sekunden schwarz vor Augen, mir schlotterten die Knie, trocknete der Mund und ein Koffer schlich sich davon. Gott, stank der! Der Geck richtete schnüffelnd seine Brillengläser auf mich und zog sich verunsichert zurück, als er auf meine geballte Nase und den angewiderten Blick traf. Schon tauchte ich wieder auf.

Nein, ich hatte keine Angst. Wirklich nicht. Na ja, jedenfalls nicht mehr. Auch vor dem Tod nicht. Kindliche Neugier ließ mich beschwingten Schrittes auf das zubewegen, womit der Untote von Ichtershausen davongeschlichen werden sollte.

VI

Der Tod fuhr in neutralen Fahrzeugen mit Aufbau und kleinen Zellen. Irgendwann löst sich die Selbstschusseinrichtung. Peng! Loch im Kopf. Der gefesselte Todeskandidat gemeuchelt. Ich wollte, durfte, konnte einfach nicht glauben, was sich in der U-Haft erzählt wurde.

Die einen wussten die Hinrichtung im neutralen, fahrenden Fahrzeug. Weder der Verurteilte noch Fahrer oder Beifahrer ahnten von ihrer Exekutionstour. Sie hielten sich an den Fahrauftrag und eine vorgeschriebene Route.

Andere wussten es nicht nur besser, sondern ganz genau. In den Knästen von Bautzen, Bützow und Brandenburg, den drei berüchtigten B’s nämlich wurden die Delinquenten durch Genickschuss wie Schlachtvieh dahingemetzelt. Auch nicht appetitlicher. Wenn aber überhaupt etwas stimmte, dann doch wohl eher das.

Mit eingezogenem Kopf kletterte ich durch die aufgeschobene Seitentür in den Kleinbus und tastete mich vorn übergebeugt drei Schritte weiter ins Halbdunkel. Sechs Deckel zählte ich, je drei links und rechts des furchtbar schmalen Pfades. Einer, der mittlere gleich rechts, weit aufgerissen. Er lud mich ein, es mir in der sechzig mal achtzig Zentimeter großen Blechdose bequem zu machen.

Als der Wagen anfuhr, rutschte ich nach vorn, mit verdrehten Beinen unter den Blechsitz und kullerte mich so gut es ging ein. Ich bin doch nicht blöd. Was hätte ich nicht alles für den geschmeidigen Körper einer Artistin des chinesischen Staatszirkus gegeben. Mein steifes Gestell war nicht auf derlei unbequeme und nicht eben schmerzlose Verrenkungen vorbereitet.

Wie in Sardinenbüchsen üblich, schwamm ich im eigenen Saft. Vorsichtig tastete ich im Stockdunkel die Wände nach oben ab, fand aber nichts als glattes, kaltes Metall. Wer weiß schon, was die für Tricks draufhaben. Womöglich kippen oder drehen die eine der Wände. Und das alles übertönende klappern der Blechdeckel gehörte natürlich zum Kalkül. So wollten sie mich mürbe machen, und vom Knall ablenken sowieso.

Und wenn gar nichts passiert, die das blöde Vehikel einfach nur im Baggersee versenken? So ein Quatsch! Überträgt sich die Finsternis auf dein Hirn? Weiß doch jeder, dass in Baggerseen baden verboten ist.

Der Wagen stoppte. Schlagartig herrschte Stille. Ich hielt die Luft an und schmiegte mein Ohr an die Tür. Von draußen drangen Männerstimmen zu mir. Dann klickte Metall. Ich zuckte zusammen und stieß mit dem Kopf gegen die Tür. Kurzes Scheppern, dann noch mal das metallene Klicken von vorhin. Haben wohl auf Handarbeit umgestellt. Und noch mal. Was denn, drei gegen einen?

Es wurde dunkler, bedrückend eng, unerträglich heiß und furchtbar feucht. Was tun? Luft! Vielleicht sollte ich einfach weglaufen. Denk schneller, die Seitentür öffnet sich! Ich dachte nicht, stemmte mich hoch und setzte mich aufrecht hin. Musste ja nicht sein, dass ich mich in diesem Stadium auch noch voll zum Löffel machte.

Der Büchsendeckel schwenkte quietschend zur Seite. Stur sah ich auf die Wand vor mir, leckte über die trockenen Lippen und blinzelte irritiert im einfallenden Licht.
„Wir sind da. Steigen Sie bitte aus.“
Erwarte nicht, dass ich heule. Erwarte überhaupt nichts von mir. Ich erwarte auch nichts von dir. Geh weiter, tu so, als sei ich nicht da. Steck die Gabel ein und geh fort, weit weg. Ich bleibe hier. Ist doch nett hier. Habe ein Zimmer ganz allein für mich. Nun gut, mit Fernseher wird es etwas eng, Badewanne gibt es keine und das Klo ist vermutlich übern Hof, aber ...
„Kommen Sie bitte.“
Ich sah ihn an. Er stand neben mir wie der kriecherische Boy aus amerikanischen Filmen. Verbeugte sich mit einem kleinen Lächeln. Nur die offene Hand vor meiner Nase verkniff er sich. Ob es sein letztes Wort war? Er nickte leicht. Also gut. Immerhin hat er Bitte gesagt. Er hat Bitte gesagt? Bitte – so wirklich ganz richtig Bitte? Zu mir? Lockt mich mit Nettigkeiten. Ganz schön ausgebufft. Wenn ich darauf hereinfalle und ihm den Rücken zuwende ... Vielleicht sollte ich mich in aller Form bedanken. Später komme ich nicht mehr dazu.

Ich glitt vom Sitz, verbeugte mich und schob die Füße übers Blech. Nicht umdrehen, sieh nach vorn. Du wirst nichts spüren. So was geht ganz schnell, sagten die in U-Haft. Und der Boy versteht sein Handwerk. Die schicken keine Amateure. Aber ich habe keine Lust. Ich will nicht. Warum holt mich hier niemand raus?
„Folgen Sie mir bitte!“
Der sagt auch Bitte. Ist ja nicht auszuhalten. Es ist vorbei. Siehst du, du hast nichts gespürt. Ich hielt beide Hände schützend vor dem grellen Licht der Sonne über die Augen und folgte ihm. Ihm, das war ein Unterleutnant. Verschwommen nahm ich vergitterte Fenster wahr. Augen, Mund und Ohren eines Gefängnisses. Doch roch es nicht nach Knast, nicht nach Moder, Schweiß, Fäkalien und Fruggen. Diesem Ort fehlte der richtige, der originale, der wahre Gestank. Es roch nicht gut, aber irgendwie angenehmer. Auch war es viel ruhiger. Und ein Unterleutnant, der Bitte sagt, keinen Totschläger am Gürtel trägt und mir die Türen aufschließt. Beängstigend. Jetzt geht’s ans Eingemachte.
Nichts, nichts, nichts ist vorbei. Sie legen mich einfach ab. Knüllen mich wie die unerfreuliche Nachricht auf dem Schmierzettel und warfen mich in den Papierkorb. Oder stand hier der Reißwolf?
Über eine Eisentreppe im Bauch des alten Backsteingebäudes folgte ich Bitte auf die erste Etage. Mein aufmerksamer Unterleutnant öffnete mir eine Tür und ich schlüpfte in einen von leisem Gemurmel und verhaltenem Gelächter angefüllten, etwa zwanzig Zellen großen Raum.

Copyright © 1993 - 2024 by Olaf W. Fichte, Germany. Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Der Roman Wollter beruht auf tatsächlichen Ereignissen.


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