Wollter

Thriller-Drama nach wahren Begebenheiten

Über den Tatsachen-Roman

Die Erlebnisse eines 16jährigen Schülers in der DDR, der aus politischen Gründen zu mehreren Jahren Haft verurteilt, inhaftiert und viele Monate in verschärfter Einzelhaft verbringen musste, sind Grundlage dieser spannenden wie auch ereignisreichen und dramatischen Geschichte des Romanhelden Wollter, der nach der Haft mit 18 Jahren gegen seinen Willen aus der DDR ausgebürgert und in die BRD abgeschoben wird. Wollter, der mit den Verhältnissen in der BRD nicht vertraut ist, der dort keine Verwandten oder Bekannte hat und dem weder Behörden noch Organisationen helfend unter die Arme greifen, findet nur Anschluss zum kriminellen Milieu. Er wird verhaftet und kann - sarkastisch gesagt - nun Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen DDR-Knast und BRD-Strafvollzug am eigenen Leibe erleben.

Der erfolgreiche Roman Wollter ist ein rasanter Thriller, dessen Haupthandlungen sich in der Zeit von Mitte der 1970er Jahre bis Ende der 1980er Jahre ereigneten.

Ein überaus intensives Leseerlebnis bietet Ihnen das Thriller-Drama Wollter.
Gebundene Ausgabe

Wollter

Thriller-Drama von

Olaf W. Fichte

Wollter: Achter Teil

Autor: Olaf W. Fichte (Kommentare: 0)

Nach einer Stunde, oder etwas mehr, hörte ich ganz in der Nähe Stimmengemurmel. Sicher, ob es Gefangene beim Hofgang waren, war ich mir nicht, denn jedem war der Aufenthalt in der Nähe der Absonderungszellen verboten.

„He! Komm mal her!“
„Was ist?“, flüsterte jemand, der vermutlich unschuldig blinzelnd gen Himmel blickte.
„Sch... schieb mir eine brennende Ziiiigarette rein. Hier, zwischen Bleeeende und Wand.“ Um die Stelle zu kennzeichnen, schob ich ein Stückchen Papier durch den schmalen Schlitz zwischen Hausmauer und Metallkasten.
„Bist du Tscheems?“
„Ja! Und jetzt mach!“
Unendliche Sekunden vergingen, bis ich, den Kopf zwischen die Stäbe geklemmt, mit ausgestrecktem Arm nach dem glimmenden Stängel fingern konnte. Gierig zog ich an ihm. Genüsslich inhalierte ich den Rauch.
„Brauchst du Tabak?“
„Der war gut! Geh ein paar Schritte zur Seite, m... m... mach ein Päckchen und wirf herein, was du übrig ha... hast. Pass auf, ich ma... ch jetzt den Weg frei.“

Mit beiden Händen umklammerte ich die Gitterstäbe, zog mich an ihnen hoch und kauerte auf dem abschüssigen Fensterbrett nieder. Dann ließ ich mich etwas nach hinten fallen, schob das rechte Bein durchs Gitter, winkelte es an, atmete tief durch und trat kraftvoll gegen die Drahtglasblende. Knirschen – weiter nichts. Abermals trat ich zu. Heftigeres knirschen. „Sau, du! Willst du wohl“, knurrte ich. Beim dritten Mal splitterte sie und nach dem vierten Anlauf flog das widerspenstige Teil aus seiner Halterung. Der Krach des im Hof aufschlagenden und berstenden Glases war noch nicht verhallt, da schwirrte etwas an meinem linken Ohr vorbei ins Zelleninnere. Draußen auf dem fußballfeldgroßen Innenhof jubelten, schrien und klatschten weit über einhundert Knackis. Hinter dem Maschendraht der Sicherheitszone an der Mauer zerrten streitsüchtige Deutsche Schäferhunde kläffend an ihren Ketten und kampflustige Alarmpfeifen mischen ihre schrillen Töne unter das Toben im Hof und forderten mich zu unverzüglichem Handeln auf.

Geschwind hüpfte ich vom Fensterbrett und suchte mein Päckchen, dass sich inzwischen gepaart haben musste. Gleich vier verschiedenster Größe sammelte ich auf. Just in dem Augenblick, als ich sie im Hohlraum unter dem Klosettbecken gebunkert hatte, öffnete sich die Zellentür. Fünf Schlüsselschwinger stürmten mit gezückten Bummis herein und packten mich.
„Ist’s mal wieder so weit?“, fragte ich unschuldig.
Doch was echte Pfeifen sind, die gehen mit lustig grimmigem Mienenspiel über so was hinweg, werfen ihr Menschenopfer kopfüber aufs Bett, fesseln es mit routinierter Hand ans Gestell, werfen eine Decke über das da, um sich den Anblick des Leids zu ersparen – und toben sich mal tüchtig aus. Ist ja sonst nichts los in der Gegend.

Bummis prasselten danieder. Ich schwieg, um sie durch das Stolpern über meine gepflegte Wortwahl nicht noch mehr anzuspornen. Sie beschimpften mich, rissen Witze, und sie lachten. Doch bald schon drangen undeutliche Fetzen zu mir unter die Pferdedecke. Draußen wurde es still. Und plötzlich spürte ich keine Schmerzen mehr. Ein schönes Gefühl.

Als ich die Augen aufschlug, war Stille um mich herum. Etwas verklebte meine Lippen. Ich strich mit der Zunge darüber und hob den Kopf dabei um einige Zentimeter an. Ein Blut-Speichel-Gemisch rann aus meinem Mund und sammelte sich zu kleinen Pfützen auf dem blauweiß-karierten Kopfkissenbezug unter mir. Erschöpft, mit Tränen unbändiger Wut in den Augen, fiel mein Gesicht in eine der Lachen.

Spät am Abend, die Nacht brach bereits herein, setzten drei Hausarbeiter eine neue Blende ein. Der jüngere von ihnen, ein kleiner blonder mit ernstem Gesicht, er mochte vierzehn oder fünfzehn gewesen sein, fragte mich mit fester Stimme: „Die haben dich verhauen?“
Wahrscheinlich einer von den Langstrafern, der seine Familie ausgerottet hat, dachte ich mir, lächelte, auch wenn es schmerzte und er darin vermutlich nur eine blutverschmierte Fratze sah, und antwortete: „Schön gesagt.“
Sein verschlossenes Kindergesicht hellte sich auf. Er lächelte zufrieden, beinahe glücklich, zog ein Päckchen Tabak aus der Hosentasche, sah kurz zur Tür und schob es dann schnell unter mein Kopfkissen.
„Du schaffst das, Tscheems“, sagte er leise.
Erlösung von den Handfesseln erfuhr ich, nachdem die Handwerker meine Zelle verlassen hatten. Ich blieb liegen auf dem Bauch, bewegte mich nicht; konnte mich nicht bewegen, weil mich jede noch so kleine Bewegung an den Misstönen der die Saiten ihrer Harfe zupfenden Engel im Himmel teilhaben ließ.

Einige Tage nach der forschen Entgegnung auf mein ausuferndes Suchtverhalten wechselte ich in mein kleines Verlies des einsamen Dunkels. Sie hatten die Verlegung aufgeschoben bis nicht mehr der Schmerz die Koffer packte.
„Wer ist in der Eins?“, fragte jemand aus dem Fenster.
„Frag nicht so blöd!“
„Hört, hört, James ist nach Hause gekommen!“, blödelte ein anderer und lachte über seinen gelungenen Scherz.
Im Vorübergehen hatte ich den kleinen Schildchen an der Wand neben den Zellentüren entnehmen können, dass der Bunker diesmal ausgebucht war. Denn nur wo ein Schildchen dran, war auch ein Arrestant drin. Umso besser, dachte ich mir, und weihte sie sogleich über mein Vorhaben ein. Bis auf einen, der noch im Laufe des Tages auf Gruppe entlassen werden sollte, würden sich die verbleibenden drei am Hungerstreik beteiligen.

Ohne einen Bissen des gewohnt köstlichen Frühstücks angerührt zu haben, gaben wir vier es am darauffolgenden Morgen mit dem Hinweis, wir befänden uns schließlich im Hungerstreik und könnten nicht einfach mir nichts, dir nichts drauflos schlemmen, alles zurück. Als hätte einer von uns die Liebste des diensthabenden Schließers beleidigt, polterte dieser sich anbrüllend, dass es verboten und noch nie da gewesen sei, den Flur entlang. Und im Übrigen seien wir allesamt Meuterer und kämen umgehend vor ein Schnellgericht.

Die Unverschämtheit unsere Forderung bestand darin, tagsüber eine und nachts zwei Decken zu bekommen. Jedenfalls für so lange, bis die Heizungen funktionierten. Obwohl kalendarischer Hochsommer, fröstelte uns. Borrmann hatte meine diesbezügliche Bitte mit der Begründung, es verstoße gegen die Sicherheit und Ordnung, vor einigen Wochen abgelehnt.

Schon am zweiten Tag schrumpften wir um einen Hartgesottenen. Beim Hofgang legte er sich flach. Fiel einfach so um. Knickte ab, der Pfeifenkopf. Angeblich brachte man ihn sofort auf die Krankenstation, wie uns einer der anwesenden Schließer weiß machen wollte. Der Umfaller habe nämlich einen Magendurchbruch erlitten, was auf das Trinken von Wasser bei der Zahnpflege zurückzuführen sei.

Soso, also Wasser bei der Zahnpflege. Warum nicht einfach Mundhygiene? So ein ausgemachter Quatsch! Auch ich trank, wenn auch kein Wasser, so doch Tee und das andere braune Zeug, das sie mit Kaffee ansprachen. Ich hielt es eher für wahrscheinlich, dass er sich zu dieser künstlerisch durchaus überzeugenden Akrobatenrolle hatte überreden, meinetwegen auch zwingen lassen.

Insgesamt ein exzellenter Schachzug. Denn zur Abendessenausgabe verweigerte man uns das Getränk. Erst nach Abbruch des Hungerstreiks, so ihr verlockendes Angebot, bekämen wir wieder etwas von dem guten Gebräu. Schließlich wolle man weiteren Magendurchbrüchen vorbeugen. Wer kann bei so viel Fürsorge schon nein sagen? Na, wir drei!

Am nächsten Tag: Schreck im Ensemble. Ja, mit dem Verzetteln ist das auch so eine Sache. Beim Hofgang war ich allein. Keine Spur von meinen Kollegen, mit denen ich noch am Morgen angeregt plauderte. Auch aus ihren Zellen verlautete kein Mucks. Das hatte was von grassierendem Bunker-Kannibalismus. Richtig unheimlich.
Oder stänkerte nur Borrmann mal wieder? Wäre nicht das erste Mal, dass Klausi mit mir seinen Schabernack trieb. Hin und wieder setzte mir der Schlingel einen schrägen Vogel in die Nachbarschaft. Unaufhörlich laberte der mich voll, wie toll es auf Gruppe sei. Das letzte Mal dauerten diese hirnerweichenden Attacken satte drei Tage.

Natürlich sagte keiner, dass ihn Klausi schickt, doch ich war mir sicher. Nur Klausi, der alte Schlawiner, konnte ein Interesse daran haben, dass ich das Handtuch warf. Womöglich vertraute er darauf, ich bekäme nicht mehr spitz, was lief. Aber vergackeiern gilt nicht. Und mein Freund Sandro würde schon dafür sorgen, dass ich nicht vor ihm verblöde.

Von da ab blieb alles an mir hängen. Meine Körperpflege beschränkte sich auf einen feuchten Waschlappen, den ich morgens und abends gereicht bekam. Zugleich auch die einzig verbliebene Möglichkeit, meinen jungen Körper mit Feuchtigkeit zu versorgen. Saugend entlockte ich ihm Tropfen des immer wichtiger werdenden Nass, rubbelte über Zähne, Gesicht, Brust und Arme und warf ihn durch den Zaun vor die Tür. Lange, dessen war ich mir durchaus bewusst, würde ich nicht mehr die Kraft dazu haben. Gewöhnlich beantwortet der Körper Wasserknappheit mit ausklinken. Aber noch ging es. Und Klausi würde niemals zulassen, dass ich welke und versande. So was bricht nicht mit alten Gewohnheiten. An wem sollten er und seine Stiefellecker sich am Tag danach auslassen?
Am Rande sei noch erwähnt, dass mir wenigstens der Friseur erspart blieb. Aber nur der Kontaktsperre wegen. Ein Mal im Monat schnitt er mir unter Bewachung die Haare, und dienstags und donnerstags malträtierte er mich mit seinem Messer auf einem Schemel im Flur. Ohne Wasser und Seife zog der Hufschmied über mich her. Wasser war ihm fremd, wie es mir fremd wurde.

Unbeweglich und verschlungen, wie ein verknotetes altes Handtuch lag ich am Boden als sich einige Tage – oder waren es vielleicht doch Jahre? – später die Tür öffnete und mich ein Schließer barsch aufforderte, mich zu erheben und mit ihm zu kommen. Schwerfällig rappelte ich mich auf die Knie und zog mich am Zaun hoch auf die Füße. Der Boden schwankte unter mir und ich fror jämmerlich, war kraftlos und schläfrig. Ich sah ihn nicht. Ich sah überhaupt kaum etwas.
Stumm, mit zu Boden gerichtetem Blick, folgte ich ihm. Jede Bewegung forderte Reserven. Es könnte an einem Wochentag, so um die Mittagszeit herum, gewesen sein. Ich nahm den Duft warmen Essens wahr, und als wir das Dienstzimmer passierten, bemerkte ich zwei weitere Schließer. Am Wochenende schob gewöhnlich nur einer Dienst.

Schlaff wie Hermann schlich ich über den Hof zum Haupttor. Vor dem Verwaltungsgebäude machte er, etwas später auch ich, Halt. Ich hob den Kopf ein wenig, um zu erkunden, weshalb wir unseren Verdauungsspaziergang unterbrachen. Im Eingang, locker an den Türrahmen gelehnt, standen zwei Meter korrekt übereinander gepackte Muskelmasse unter einer auf den Leib gemalten grünen Offiziersuniform. Er sah mich an und machte ein Gesicht, als denke er: „Was, so sehen heute Rebellen aus? Also, zu meiner Zeit, damals das waren noch richtige Kerle.“.
Plötzlich zog ein berufsmäßiges Lächeln über ihn hinweg, und ich hörte ihn aufgesetzt freundlich wie ein Oberarzt bei der Visite eines unheilbar Kranken sagen: „Da ist ja unser Rebell“, stieß sich lässig vom Türpfosten ab und gestikulierte einladend mit beiden Armen.
Ungemein theatralisch für meinen Geschmack.
Von einer Sekunde auf die andere vermisste ich meine Beine. Um ein Nachgeben und tieferen Fall vorzubeugen, folgte ich dem gelben Kurzhaar-King Kong den Gang entlang und durch die zweite Tür auf der rechten Seite. Ich sah mich kurz um und entdeckte den Häftlingstypischen, gebrechlichen Holzstuhl, fiel dumpf auf ihn, streckte die Beine weit von mir und atmete tief durch.
„Setz dich!“
Ah, so einer ist das also. Über dreißig und Jugendspäße treiben. Ganz ein anhänglicher Greis.

Copyright © 1993 - 2024 by Olaf W. Fichte, Germany. Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Der Roman Wollter beruht auf tatsächlichen Ereignissen.


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