Wollter
Thriller-Drama nach wahren Begebenheiten
Über den Tatsachen-Roman
Die Erlebnisse eines 16jährigen Schülers in der DDR, der aus politischen Gründen zu mehreren Jahren Haft verurteilt, inhaftiert und viele Monate in verschärfter Einzelhaft verbringen musste, sind Grundlage dieser spannenden wie auch ereignisreichen und dramatischen Geschichte des Romanhelden Wollter, der nach der Haft mit 18 Jahren gegen seinen Willen aus der DDR ausgebürgert und in die BRD abgeschoben wird. Wollter, der mit den Verhältnissen in der BRD nicht vertraut ist, der dort keine Verwandten oder Bekannte hat und dem weder Behörden noch Organisationen helfend unter die Arme greifen, findet nur Anschluss zum kriminellen Milieu. Er wird verhaftet und kann - sarkastisch gesagt - nun Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen DDR-Knast und BRD-Strafvollzug am eigenen Leibe erleben.
Der erfolgreiche Roman Wollter ist ein rasanter Thriller, dessen Haupthandlungen sich in der Zeit von Mitte der 1970er Jahre bis Ende der 1980er Jahre ereigneten.
Wollter
Thriller-Drama von
Olaf W. Fichte
Wollter: Vierundzwanzigster Teil
Wortlos verließ ich das Dienstzimmer und stapfte leicht verwirrt über den Stationsflur zu meiner Zelle. Von wegen rummaulen. Ich maule nicht, ich bin zeitkritisch. Jeder wusste mehr über die DDR als ich. Muss ich noch eine Menge lernen.
Während der letzten Wochen stellte ich mehrere schriftliche Anträge. Zum einen wollte ich raus aus der allgemeinen Lethargie, raus aus der Isolation, wollte anständig mit anpacken, etwas leisten und dazu auf eine Arbeitsstation verlegt werden. Zum anderen war mal wieder ein Ölwandwechsel dran. Meine Wohnung hielt nämlich so manches bereit, an das ich mich nicht gewöhnen konnte, und auch nicht wollte.
Das einfach verglaste Fenster ließ sich nicht zur Gänze schließen; der Metallrahmen war durchgerostet und an mehreren Stellen gebrochen. Ob im Bett, am Tisch oder auf der Toilette: Vor dem eisigen Luftzug gab es kein Entrinnen. Doch so richtig ab ging es, öffnete sich die kleine quadratische Kostklappe inmitten der stählernen grauen Tür. Und das dämliche Teil flog verdammt oft auf, nicht nur zur Fütterung. Dagegen kam dann auch der schmalbrüstige Heizkörper, gedrängt zwischen Tür, Waschbecken und Toilette nicht an. Tagsüber gab er sich wirklich Mühe, doch nachts verlor er an Kraft, bis er sich schließlich aus der zugigen Ecke zurückzog. Das war dann nicht mehr so furchtbar lustig unter der dünnen Pferdedecke.
Morgens perlte sich Kondenswasser an den Scheiben ab; Übersprang einen fünf Zentimeter breiten Sims und suchte sich seinen Weg entlang der dunkelgrauen Kacheln zur Bodenplatte, wo es sich in einem drei Zentimeter breiten Spalt sammelte und gemächlich versickerte – manchmal.
Eine Silvesterparty im Knast hat nicht nur etwas sehr Eigenwilliges, nein, sie ist auch urkomisch. Da purzeln glimmende Pferdedecken, lodernde Bettwäsche und brennendes Toilettenpapier aus den Fenstern. Zur Begleitmusik der auf handgefertigten Fenstergittern ausgelassen hämmernder Plastik-Klodeckel stimmt ein Chor das Kauderwelsch unzähliger Dialekte und Sprachen seine unverständlichen Gesänge der Nacht bei. Und geistig unbelastete Harakirimeister gehen unbeeindruckt ihrem Wunsch nach Vollkommenheit nach, anstatt ein Buch zu schreiben.
Letztere hatten ein sensibles Händchen für Stimmungen. Vor allem schön düster musste es sein. So wie in den Nächten nach Urteilsverkündungen. Noch besser an Heiligabend. Oder eben Silvester, wenn es sich irgendwie anbot. Die, die immer alles ganz genau nahmen, traten natürlich an ihrem Geburtstag die ganz große Reise an.
In jener Neujahrsnacht verabschiedeten sich gleich zwei von meiner Station. Leider waren ihre Zellen auch nicht besser als die meinige. Ein dritter blieb glücklos. Der stellte sich aber auch so was von stümperhaft an. Anhand der Spuren vermuteten wir, dass er seinen dummen Schädel unablässig gegen Wände und die Tischkante geschlagen haben musste. Überall klebte Blut. Bis hoch zur Neonröhre an der Decke.
Mit blutverkrustetem Gesicht saß er geistesabwesend am Boden vor dem Bett seines magenbelastenden Stalls. Ein Ritual? Das Blut, eine Opfergabe? Na gut, vielleicht war auch ich nicht ganz klar nach nur drei Stunden Schlaf. Aber das Ding sah wirklich ein bisschen aus wie das zermatschte Karnickel am Straßenrand. Wie auch immer, der Harakiripicasso drei Zellen neben mir hatte, was mir seit einiger Zeit abging: eine tadellose Verdauung. Dafür leckte sein Orientierungssinn. Seine Geschäfte drückte er unter den Tisch, hinten links in die Ecke unters Fenster und, wen wundert’s, auf dem Bett ab. Wie einen i-Punkt säuberlich aufs Kopfkissen gesetzt. Dabei war erst zwei Tage zuvor Bettwäschetausch. Selbstredend war dem wahren Neandertaler Papier völlig unbekannt.
Nachdem es mit der Höhlenmalerei nichts wurde, probierte er es anscheinend mit Erstinken. Hätte er es mal lieber mit Flucht versucht.
Eiligst brachten ihn fünf Schließer fort, als einige von uns anboten, ihm zu seinem Trip behilflich zu sein.
Als ob das nicht schon genügte, verkündete der Stationsarbeiter, auf dem Freistundenhof des Westbau habe sich knöchelhoher schwarzer Morast gebildet. Regen in den Morgenstunden verwandelte den verbrannten Schutt der Silvesternacht zu einem satten Brei. Mein Hofgang fiel zum ersten Mal aus, und ich wünschte mir den Typ aus dem zugeschissenen Loch zwischen die Finger.
An einem verregneten Nachmittag Ende Januar besuchte mich Frau Jamon. Wir saßen in der winzigen Besucherzelle im Ostbau und sie erkundigte sich nach meinem Befinden.
„Hervorragend!“
„Es ging nicht früher. Über Weihnachten war ich im Urlaub bei meiner Mutter. Das musste mal sein. Es war sehr schön.“ Sie legte einen hellblauen Schnellhefter zwischen uns auf den Tisch. „Das ist eine Kopie der Polizeiakte. Notieren Sie an den Rändern, was Ihrer Meinung nach nicht den Tatsachen entspricht. Bei meinem nächsten Besuch geben sie mir dann alles wieder mit. Ach ja, das mit Ihrem Gutachten habe ich in die Wege geleitet.“
Ich sah ihr eindringlich fragend in die Augen. Genug gequatscht, schieb den Stoff rüber. Sie begriff und legte die Franzosen auf den Tisch. Kaum hatte die Schachtel die Platte berührt, da lag auch schon eine zwischen den Fingern meiner Rechten.
„Das Gutachten kann nur zu unserem Vorteil ausfallen. Die Kosten übernimmt übrigens die Staatsanwaltschaft. Ich war ihretwegen gestern bei Gericht und habe mit ihr gesprochen.“
Sie schob ihre Brille zurück, blinzelte auf ein am Tischrand liegendes Blatt Papier mit schätzungsweise fünfundzwanzig oder mehr Namen, strich meinen durch und sagte, ohne aufzusehen: „Sagen Sie dem Beamten, er kann den Nächsten von der Liste hereinschicken.“
Ich stand auf, steckte heimlich drei Zigaretten ein, reichte ihr die Hand und verließ die Besenkammer.
„Die hat’s mal wieder eilig, hä?“, fragte der Schließer, dem ich Jamons Auftrag übertrug.
Ich nickte nachdenklich. War gestern nicht Sonntag?
„Die hat’s immer eilig. Ist normal bei der. Da ist kaum einer länger als zwei, drei Minuten drin.“
So eine Polizeiakte hat es in sich, dachte ich, und erhoffte etwas furchtbar Gruseliges. Mindestens aber aufregend oder wenigstens schwer kompliziert. Auf jeden Fall etwas anderes als das, was vor mir auf dem Tischchen meines Zimmers ruhte. Was genau mir vorschwebte, kann ich nicht sagen. Es war eben so ein Gefühl. Etwa so ein Gefühl, das sich einem beim Betreten heiliger Museumshallen aufdrängt: Zurückhaltendes Murmeln, gedämpfte Schritte – keiner weiß so richtig, was er eigentlich da soll, aber alle und alles ist schrecklich wichtig. Wer sich dann durch den Gestank aus Bohnerwachs und Achselschweiß schiebt, der kommt schnell zu sich – an der Wand baumeln doch nur alte Bilder.
Und, ja, vielleicht auch irgendwie wissenschaftlicher, ganz bestimmt aber ordentlicher und gepflegter, weniger durchgelutscht und oberflächliches Blabla, keine gestelzten Halbsätze und eine Orthografie, die höhere Bildung, nicht den Drittklässler erkennen lässt.
Doch eigentlich war mir das alles völlig Brust, denn was ich las, beruhigte mich trotz Kaffeeflecke, Zigarettenasche und den Fußspuren spazieren gehender Butterbrote ungemein. Zwar fehlten, von dem in der Urschrift über zweihundert Seiten, sechzig, doch gingen aus den verbliebenen einige der Zeugenaussagen sowie die polizeilichen Ermittlungen hervor.
Mit letzteren stimmten meine Angaben weitestgehend überein. Herr Niedermann, so der Name des Geschädigten in den Protokollen, verwickelte sich in seinen sage und schreibe acht Vernehmungen in immer neue Widersprüche.
Angesichts der fehlenden Blätter des ballistischen Gutachtens, der Fahndungsberichte, den Beurteilungen meiner Person durch die Bullerei und aus den Vernehmungen des Opfers rundete sich ein recht verzerrtes Gesamtbild ab. Doch alles in allem sah es sehr gut für mich aus.
Lange konnte es nun nicht mehr dauern, bis sie mich auf die Straße setzen.
Zelle 33 war nicht größer als meine vorherige. Dafür aber kein Betonloch, viel wärmer und mit einem Fenster, aus dem ich, zog ich den Stuhl heran, auf das Grün des Innenhofs sehen konnte. Am frühen Morgen des 2. Februar war es so weit. Ich wurde auf die Station EF0 in den Südbau verlegt.
Kaum hatte ich mein Bett bezogen, als mich ein Schließer holte und durch einen unterirdischen Gang zu den Arbeitshallen hinter dem Ostbau führte. Dort angekommen, wies mir ein ziviler Angestellter zwischen etwa dreißig anderen Knackis, einen Stuhl zu.
Für weniger als siebzig Pfennige die Stunde legte ich den Rest des Tages Werbeprospekte für Zigaretten in ein Umweltmagazin.
Genüsslich malte ich mir nebenher in den schillerndsten Farben aus, was ich mit der geradezu fürstlichen Entlohnung am Zahltag anstelle. Tabak, viel Tabak und Papierchen. Und natürlich ein Feuerzeug. Und Briefmarken und löslichen Kaffee, wenn die Knete reicht. Alles andere war zu teuer. Viel teurer als draußen.
Schon am folgenden Tag kam ich Briefmarken und Kaffee einen gehörigen Schritt näher. Da nämlich wurde mir eine nicht unbeträchtliche Lohnerhöhung zuteil, die meine Versetzung in die Nebenhalle mit sich brachte.
Bei einem Stundenlohn von einundachtzig Pfennigen entgratete ich mittels einer elektrischen Handfräse Gussteile für verschiedene Autohersteller – im Akkord, versteht sich. Darunter war zwar keiner, von dem ich mir jemals, sollte ich es mir eines Tages leisten können, einen Wagen kaufen würde, aber meine Arbeit machte ich trotzdem anständig.
Dass meinte auch der Arbeitsbulle, ein Schließer mit übergeworfenem blauem Kittel, der mir drei Tage später die alleinige Endkontrolle aller bearbeiteten Stücke anvertraute. Und diese Weise Entscheidung katapultierte meine Bezüge auf eine volle Mark.
Mein erstes Westgeld, für das ich mehr tun durfte als dumm glotzen, blödsinnige Fragen beantworten oder auf widerspenstigem Holz herumtrampeln. Echt schade nur, dass es mir nicht aufs vor Aufregung feuchte Händchen geblättert würde. Lediglich ein dämlicher Zettel sollte es sein. Haben wahrscheinlich nichts Bares im Haus. Wohl der Räuber wegen.
Ich war mir nicht sicher, ob die beiden Uniformen nun mich den beinharten Knacki oder nur wegen der Zivilkleidung, die ich trug, ständig um mich herumlungerten. Um meine Gesundheit konnten sie unmöglich besorgt sein, sonst hätten sie mir eine Decke oder wenigstens eine Schafwolljacke spendiert. Naturgemäß ist es Mitte Februar in Mitteleuropa auch tagsüber bitterkalt.
Zäh wie sie waren, wichen sie mir nicht von der Seite. Erst als sie eine furnierte Mahagonitür mit einem weißen Papierschildchen, auf dem in winzig kleiner schwarzer Schrift „Landgerichtsarzt Dr. Kurzgarten“ zu lesen war, ohne anzuklopfen öffneten und mich, ahnungslos wie ich war, hineinstießen, ließen sie von mir ab und verkrochen sich irgendwo draußen auf dem Flur.
Als ich dann nach anderthalb Stunden diesem Ort irgendwo in der Innenstadt den Rücken kehrte, überkam mich ein dringlicher Entsorgungsdrang. Allein meine ästhetische Erziehung sperrte sich, dem Bedürfnis nachzugeben und auf ungeputzte Staatsmachttreter zu reihern.
Und dabei empfand ich doch im Verlauf der Fragestunde ein so wunderbar befreiendes Gefühl.
Ich saß Kurzgarten gegenüber in einem weichen und so was von bequemem Sessel, und er sprach mit mir wie mit einem vollwertigen Menschen. Aber auch das gänzliche Fehlen von Knastaccessoires wie Gitter oder Kakerlaken und meine private Kleidung suggerierten mir, mich frei und ungezwungen fühlen und sprechen zu können.
Gleich nach der Begrüßung hob Kurzgarten hervor, dass er Arzt sei und ich ihm voll und ganz vertrauen könne. Nichts würde diesen Raum verlassen. Er trug eine Geizkragenbrille, doch keinen weißen Kittel, nicht einmal weiße Socken.
Der Druck der Zurückhaltung wich – und ich redete. Nichts neues, denn da gab es ja nichts, dafür aber flüssiger und ausführlicher. Ich redete gern. Es machte mir unheimlich viel Spaß. Und es half. Verkrampfungen lösten sich.
Da war ein Mensch, der mir einfach nur zuhörte – ohne Unterbrechung. Ich redete mir Hals und Mund trocken. Kurzgarten unterbrach mich kein einziges Mal, stellte nicht eine Frage, hakte nicht nach, bot mir kein Glas Wasser an. Ich hörte nicht auf, wiederholte und wiederholte mich, nur um dem Ende fernzubleiben.
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