Wollter

Thriller-Drama nach wahren Begebenheiten

Über den Tatsachen-Roman

Die Erlebnisse eines 16jährigen Schülers in der DDR, der aus politischen Gründen zu mehreren Jahren Haft verurteilt, inhaftiert und viele Monate in verschärfter Einzelhaft verbringen musste, sind Grundlage dieser spannenden wie auch ereignisreichen und dramatischen Geschichte des Romanhelden Wollter, der nach der Haft mit 18 Jahren gegen seinen Willen aus der DDR ausgebürgert und in die BRD abgeschoben wird. Wollter, der mit den Verhältnissen in der BRD nicht vertraut ist, der dort keine Verwandten oder Bekannte hat und dem weder Behörden noch Organisationen helfend unter die Arme greifen, findet nur Anschluss zum kriminellen Milieu. Er wird verhaftet und kann - sarkastisch gesagt - nun Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen DDR-Knast und BRD-Strafvollzug am eigenen Leibe erleben.

Der erfolgreiche Roman Wollter ist ein rasanter Thriller, dessen Haupthandlungen sich in der Zeit von Mitte der 1970er Jahre bis Ende der 1980er Jahre ereigneten.

Ein überaus intensives Leseerlebnis bietet Ihnen das Thriller-Drama Wollter.
Gebundene Ausgabe

Wollter

Thriller-Drama von

Olaf W. Fichte

Wollter: Vierter Teil

Autor: Olaf W. Fichte (Kommentare: 0)

Beim täglichen Hofgang entrann ich der Abgeschiedenheit und Einsamkeit meiner Tage, wenn auch nur für kurze Zeit. Sechzig Minuten lief ich vor dem Zellenhäuschen im Kreis. Jeden einzelnen Augenblick unter freiem Himmel genießend. Ich kannte weder gutes noch schlechtes Wetter, nur die Gier auf ein paar Schritte in Freiheit. Ja, in Freiheit - auch wenn es merkwürdig klingen mag. Schneller und schneller, so als verlängere sich die Zeit, liefe ich so weit wie irgend möglich. Ich drehte meine Runden, trampelte lächelnd durch Pfützen und nickte vergnügt, tippte sich einer der beiden zur Überwachung abgestellten Schließer an die Stirn.
Zu anderen Gefangenen, drehten sie nun mit mir ihre Runden oder gingen sie nur vorüber, musste ich zwei Meter Abstand halten. Stehen bleiben, miteinander sprechen oder sich gar auf den Boden setzen führte zum sofortigen Abbruch des Luftschnappens.
Ihren Verboten zeigte ich die Brust, denn ich liebte diese Vorschriften. Ich wollte laufen, laufen, laufen, niemals wieder stehen bleiben.

An keiner Stelle verweilen, nur eilen, weiter, weiter, vorwärtsstreben. Und sprechen? Worüber? Was hatte ich schon zu erzählen. Ich sah nährende Erde und ziehende Wolken. Das gehörte mir - ganz allein nur mir.

In diesem reizvollen Fluidum verbrachte ich zwei volle Wochen, an deren Ende ich fest davon überzeugt war, jeder weitere Tag triebe mich dem Tod in die Arme. Tagsüber turnte ich am Zaun, führte Selbstgespräche oder schlief auf dem kalten Boden liegend. Der Deckel öffnete sich zu den Mahlzeiten, zum Hofgang und zur Nachtruhe.
Die Abstände waren groß genug, um gelegentlich auch mal meinem Klappbett etwas Bewegung zu verschaffen.
Aus dem Kragen meines Overalls fummelte ich den Aluminiumfalz der Zahnpastatube und drückte und drehte sie einige Sekunden im Schloss. Vernahm ich sein ungeduldiges Knacken, verbunkerte ich zunächst den Schlüssel im Kragen, bevor ich es losband.
Ausgesprochen erholsam waren die Tagesstunden auf ihm freilich nicht. Ruhen war durchaus drin, schlafen nein. Unablässig suchte ein Ohr den Flur vor meiner Wohnung ab. Empfing es Geraschel, gar Klimpern, sprang ich vom Brett, klappte es hoch, ließ das sich nicht selten sträubende Schloss einschnappen und legte mich unschuldig schlafend auf den Boden.

Sieht man mal von Borrmanns Gegenwart ab, mangelte es mir an nichts. Nicht das er mir irgendwie abging. Ich hätte nur zu gern gewusst, weshalb ich in verschärfte Einzelhaft kam. Rein der Ordnung halber. Neugierig war ich bestimmt nicht.
Überraschenderweise besuchte er mich am vierzehnten Tag. Flankiert von zwei Schließern baute er sich vor meinem Zaun auf und fingerte desinteressiert an seinem korrekt sitzendem Plastikgezwirn.
„Wie haben Ihnen die zwei Wochen gefallen?“, fragte er, an mir vorbei auf den Kübel starrend.
Ich folgte seinem Blick.
„Ich habe sie genossen, Genosse“, provozierte ich in meiner gewohnt charmanten Art.
„Möchten Sie auf Gruppe?“
„Gern.“
„Und arbeiten?“
„Noch gerner. Oder gibt’s das Wort nicht?“
„Also los!“, sagte Borrmann, lächelte zuvorkommend, als böte er einem Mütterchen beim Heruntertragen des Abfalls seine Hilfe an, und befahl seinen Lakaien: „In Absonderung!“, machte auf den Absätzen seiner hochglanzpolierten Halbschuhe kehrt und verließ mich.
Ich warf den Kopf herum. Meine Augen weiteten sich, mein Mund war trocken und unter den Armen traten Bäche über die Ufer. Der will mich töten, war mein erster Gedanke. Ganz langsam, peu à peu.
Wohl blöd geworden, das Dingsda. Ich werde nicht zulassen, dass der mich umbringt. Nicht der! Ich werde ihm die Brust zeigen. Ganz einfach die Brust zeigen. Aus! Basta!

Von der Einzelhaft in die Absonderung. Na, wenn das nicht Ölwandwechsel bedeutet.
Ohne weiteres Aufsehen klemmte ich die Pferdedecke untern Arm und folgte den beiden von Borrmann zurückgelassenen Schließern zur Kammer, wo mir dieselbe Ausstattung an Bekleidung, Bettwäsche, Decken, Besteck und dergleichen Notwendigkeiten, wie sie jeder andere auch erhielt, feierlich überreicht wurde.
Feierlich, weil mich die beiden Kalfaktoren gleichermaßen höflich und doch kumpelhaft begrüßten. Außerdem grinsten sie unentwegt. Und daran trug nicht allein meine Frage „Trägt das der gut gekleidete Knacki dieses Jahr?“ beim Überstreifen der Kleidung bei. Es waren ganz einfach nette Burschen, die, ohne dass ich darum bat oder dafür zahlte, Stapel von Wäsche nach den besterhaltenen Stücken durchwühlten. Selbst ein Offiziersstoff-Schiffchen, die nur von einer Handvoll Auserwählter, den durchsetzungsfähigsten und somit höhergestellten getragen wurden, steckten sie mir zu.

Nachdem ich mich in eine komplette Garnitur weißer Feinrippunterwäsche, in kratzige, dicke graue Militärsocken, einen nagelneuen dunkelblauen Schlosseranzug und ebenfalls neue schwarze Halbschuhe gehüllt hatte, warf ich die übrigen Utensilien in den blauweiß karierten Bettbezug und diesen wie einen Sack Kartoffeln über die rechte Schulter. „Auf geht’s!“, verkündete ich fröhlich und lächelte meinen Bewachern aufmunternd zu. Dabei hätte ich heulen können, so viel Angst hatte ich vor der Einzelhaft.

Schnurstracks führten sie mich über den Hof. Einen Block weiter, im Erdgeschoss des Hauptgebäudes, dem einzigen Bau, in dem es Nonnen nicht getrieben haben konnten, weil er sicher kaum älter als dreißig, vierzig Jahre war, machten wir halt.
Vor herumstehenden, neugierig glotzenden Teenies abgeschirmt, schoben sie mich vierzehn Stufen hoch und linksseitig in einen Zellentrakt. Scheppernd schloss sich die schwere Stahltür hinter mir. Auch an diesem auserwählten Ort standen mir fünf Wohnungen zur Auswahl. Alle unbewohnt. Wieder so ein Geisterflur. Spontan entschied ich mich für die Kleine links hinten. Doch ausgerechnet die gefiel den anderen nicht. Sie pfiffen mich zurück und bedrängten mich, die mittlere gegenüber zu beziehen. Und da sie ganz und gar nicht den Eindruck machten, mit mir handeln zu wollen, gab ich eben nach.
Kaum hatte sich das Brett hinter mir geschlossen, warf ich meinen Bettbezugrucksack schwungvoll auf die Pritsche, sah mich kurz nach allen Seiten um und begab mich gierig auf Erkundungstour durch mein neues Domizil. Jede Ecke und jede noch so kleine Ritze nahm ich genauestens in Augenschein. Unter dem Tisch suchte ich ebenso wie unter dem Stuhl, den Fugen am Fenster und im Hohlraum unter dem Toilettenbecken. Im, auf, unter und hinter dem an der Wand festgeschraubten Schrank.
Dann - Der Herr sei gepriesen! - am Winkelstahl unter der Pritsche wurde ich schließlich doch fündig. Zufrieden ließ ich mich auf dem Deckel der Kloschüssel nieder und entrollte das kleine Stückchen Zeitungspapier. Vorsichtig, ganz vorsichtig und immer darauf bedacht, meine Hände im toten Winkel des Spions zu halten.
Ich war lange genug im Knast, um die wichtigsten ungeschriebenen Gesetze zu kennen, ohne die ein Überleben prinzipiell möglich, aber weniger aufregend gewesen wäre. Eines der Gesetze lautete: Vererbe deinem Nachfolger, was von dem, was du in die Absonderung oder den Arrest geschmuggelt hast, übrig ist.
Behutsam, als handle es sich um ein Fabergé-Ei, breitete ich den wertvollen Inhalt auf dem linken Oberschenkel aus. In meinen dankerfüllten braunen Augen bildeten sich Rinnsale der Zuversicht. Um meine Lippen spielte ein vergnügtes Lächeln. Tausendfach dankte ich meinem Vorgänger für die zehn Millimeter lange Bleistiftmine, die kleine Glasscherbe und für den drei Millimeter großen Feuerstein. Vornehmlich aber für die Tabakbrösel, aus denen ich bestimmt fünf, vielleicht sogar sieben kräftige Lungenzüge holen könnte.
Kurz: Ich war happy. Meinen Körper durchzuckte ein bis dahin unübertroffenes Glücksgefühl, das sich sogleich über Achselfeuchte schamlos nach außen hin mitteilte. Mir war nach tanzen und schreien. Ja, selbst einen Borrmann hätte ich in diesem Moment umarmt und womöglich sogar küssen können. Letzteres strich ich dann doch lieber wieder. Man muss ja nicht gleich übertreiben.
Sorgsam rollte ich nach einigen Sekunden der Andacht den kleinen Schatz wieder zusammen und beförderte ihn zu meinem anderen in die Unterhose.

Zu den Glanzpunkten der Absonderung, wenn ich mal so sagen darf, gehörte neben der gelblichen Ölwand, dass ich Bücher und Zeitungen lesen durfte. Am Schreibverbot hielt Borrmann aber weiterhin fest. Seit meiner Landung in Ichtershausen gestattete man mir nicht, Briefe zu schreiben oder zu empfangen. Desgleichen galt auch für den Empfang von Paketen und Besuche, ohne dass ich erfuhr, weshalb.
Die Bleistiftmine versetzte mich nunmehr in die vorteilhafte Lage, anderen Informationen zukommen und sogar nach draußen zu meiner Familie schmuggeln lassen zu können. Zu dumm nur, dass ich keinen kannte, den ich um diesen oder jenen Gefallen bitten konnte. Die Zeit, die ich auf Transport und der Zugangsabteilung verbrachte, war einfach zu kurz, um jemanden so gut kennenzulernen, dass ich ihm rückhaltlos vertraute.

Nach dem Abendessen baute ich mein Bett, legte meine erste eigene Zahnbürste akkurat auf die Kante des Waschbeckens und machte ein wenig Ordnung in der Zelle. Dabei zielte ein Ohr so lange in Richtung Tür, bis mir das markante Scheppern der Stahltür zurief, nunmehr ungestört zu sein. Jedenfalls für eine Stunde.
Aufgeregt fummelte ich in meiner Unterhose bis ich endlich das kleine Röllchen - Nein, das andere! - zu fassen bekam. Umständlich entblätterte ich auf dem Tisch das Papier und entnahm ihm alles außer den Tabak. Dann rollte ich mit leicht zittrigen Fingern das Zeitungspapier zu einem kleinen Tütchen, stopfte mit dem Griff des Rasierapparats, den ich auf der Kammer erhielt, den bröseligen Tabak fest hinein und drehte mit Daumen und Zeigefinger das vorn überstehende Papier fest zusammen. Die beim Aufräumen eingesammelten feinen Staubflocken, von denen es besonders unter dem Bett reichlich abzustauben gab, legte ich aufgehäuft auf dem Boden bereit. Anstatt einer Klinge, die mir nur unter Aufsicht eines Schließers überlassen werden durfte, spannte ich den Feuerstein an der Außenkante des Rasierapparats so ein, dass er ein klein wenig überstand. Dann ging es dem ultimativen Höhepunkt entgegen. Den Rasierapparat in der Linken, das Tütchen im Munde und die Glasscherbe in der rechten Hand - so kniete ich auf dem abgewetzten, knastkaffee-braunen, linoleumähnlichen Bodenbelag über der fetten Wollmaus gebeugt. Einige Augenblicke hielt ich die Luft an und horchte zum Gang hinaus, zog dann die Scherbe kratzend am Feuerstein entlang, horchte wieder und kratzte mit der Scherbe erneut über den Feuerstein. Ich zitterte am ganzen Leib vor Aufregung. Funke um Funke besprang die Wollmaus, bis sie schließlich Feuer fing. Hurtig hielt ich mein Tütchen in die für zwei oder drei Sekunden hoch-schlagende Stichflamme.
Geschafft!
Um keine verräterischen Brandspuren zu hinterlassen, schlug ich mit der flachen Hand auf mein Feuerzeug ein und fegte mit der rechten Handfläche die noch glimmenden Flusen dahin zurück, von wo ich sie aufgelesen hatte.
Damit ich die wenigen Züge in ihrer Gänze genießen konnte, setzte ich mich auf den Stuhl und lehnte mich entspannt zurück. Aufgrund der mir zwangsverordneten Abstinenz der letzten Wochen, war dies auch dringend geboten. Ich streckte die Beine lang aus, legte den Kopf in den Nacken, sah zur Decke und lächelte zufrieden. Das Zeug verursachte mir Schwindelgefühle. Eine überaus angenehme Begleiterscheinung.
Ah, so lässt es sich aushalten.
Der Service stimmte, war kaum noch zu übertreffen. Jeden Morgen wurde mir mit dem Frühstück eine JUNGE WELT gereicht. Tatsache! Nun ja, mittags hatte ich sie wieder abzugeben. Doch las ich bis dahin alles, einfach alles - jede noch so unsinnige Zeile. Und davon gab es reichlich. Tausende, möchte ich meinen. Chinesen bekriegten sich mit Vietnamesen. Soso. Natürlich erfuhr ich nichts wirklich Interessantes. Und so blieb mir gar nichts anderes übrig, als zu der erfreulichen Erkenntnis zu gelangen, dass es für einen Knacki, abgesehen von einer noch erfolgreicheren Getreideernte, unmöglich war, etwas zu verpassen.
Die Nachmittage verbrachte ich über irgendeinem Buch gebeugt und trieb zwischen den Kapiteln Gymnastik. In der übrigen Zeit schlummerte ich so vor mich hin.

Copyright © 1993 - 2024 by Olaf W. Fichte, Germany. Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Der Roman Wollter beruht auf tatsächlichen Ereignissen.


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