Wollter
Thriller-Drama nach wahren Begebenheiten
Über den Tatsachen-Roman
Die Erlebnisse eines 16jährigen Schülers in der DDR, der aus politischen Gründen zu mehreren Jahren Haft verurteilt, inhaftiert und viele Monate in verschärfter Einzelhaft verbringen musste, sind Grundlage dieser spannenden wie auch ereignisreichen und dramatischen Geschichte des Romanhelden Wollter, der nach der Haft mit 18 Jahren gegen seinen Willen aus der DDR ausgebürgert und in die BRD abgeschoben wird. Wollter, der mit den Verhältnissen in der BRD nicht vertraut ist, der dort keine Verwandten oder Bekannte hat und dem weder Behörden noch Organisationen helfend unter die Arme greifen, findet nur Anschluss zum kriminellen Milieu. Er wird verhaftet und kann - sarkastisch gesagt - nun Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen DDR-Knast und BRD-Strafvollzug am eigenen Leibe erleben.
Der erfolgreiche Roman Wollter ist ein rasanter Thriller, dessen Haupthandlungen sich in der Zeit von Mitte der 1970er Jahre bis Ende der 1980er Jahre ereigneten.
Wollter
Thriller-Drama von
Olaf W. Fichte
Wollter: Fünfter Teil
Die Tage vergingen.
Nach zwei Wochen meldete sich Borrmann mit seinen beiden Lakaien zurück. Er begehrte zu wissen, ob ich meine Meinung geändert habe. Natürlich hatte ich diese nicht geändert. Warum auch? Zur Güte, und um ihm zu zeigen, dass ich durchaus willens war, bot ich ihm an, mir einige Tage Gesellschaft zu leisten.
Natürlich war das völliger Humbug. Natürlich suchte ich ihn zu provozieren. Ich wollte ihn aus der Reserve locken, seinen Feindseligkeiten und Bedrohungen, die mich auch ohne Worte und Gestiken erschreckten, etwas entgegensetzen. Bloß keine Schwäche zeigen; am Ende springen die einem ohne Vorwarnung an die Kehle. Natürlich war mir nicht klar, was ich tat. Und natürlich wusste ich nicht, worum es eigentlich ging.
Borrmann, der sich zwei Schritte vor mir aufgebaut hatte, kam auf mich zu. Ohne mit der Wimper zu zucken, bettete er seine rechte Faust in mein schutzloses Gesicht. Sie traf mich mit voller Wucht. Na, ich war ja vielleicht baff. Mit so manchem hatte ich gerechnet, nur nicht damit. Seine Antwort hatte mich derart übertölpelt, dass ich das Gleichgewicht verlor und rücklings aufs Bett fiel.
Ein gefundenes Fressen für den Stänkerer. Auf sein Kommando hin packten mich alle drei, drehten mich auf den Bauch, zerrten Arme und Beine in die Länge und fesselten sie mit Handschellen an die Ecken des Bettgestells. Abscheulich, wie sie meine Hilflosigkeit ausnutzten.
Einer, ich konnte ihn nicht erkennen, weil ein anderer meinen Kopf zur Wand gedreht festhielt, warf eine Decke über mich.
"Wer darf zuerst, Klaus?"
"Ich!", sagte Borrmann.
Und schon hielt einer, kurz darauf drei Bummis auf meinem Rücken Einzug. Die gingen wirklich stramm zur Sache. "Auaaaa!", sagte ich langgezogen und lachte. "Auaaaa! Hör sofort damit auf, Klausi!"
Ich lachte laut und schluckte an den rasenden Schmerzen des einsetzenden Trommelwirbels, der, so als klebte ich an einer verdammten Hochspannungsleitung, aus meinem Körper ein dunkles, heftig krampfartig zuckendes Pferdedeckenbündel machte. Ein Solo für drei. Ich verstummte und biss, um nicht aufzuschreien und ihnen ein Gefühl des Erfolgs zu vermitteln, wild in den Kopfkissenbezug.
Den Klausi hätte ich mir wohl besser gespart. Zu spät. Du weißt, mit den Zuckungen werden augenblicklich auch die Schmerzen gehen. Bitte, ich mag nicht mehr zucken.
"Dich biegen wir auch noch zurecht! Ich habe schon ganz andere Kaliber kleinbekommen! Lasst das Schwein liegen! Am Nachmittag zur Kammer und in Arrest mit dem! Die Tür bleibt bis dahin offen! Du bleibst hier und passt auf die Sau auf!"
Ein furchtbar netter Mensch, mein Klausi. Aber er schrie. Ja, er brüllte tatsächlich. Ich hatte ihn herausgelockt. Und noch etwas ließ mich frohlocken: Borrmann gestand, dass er nicht weiterwusste. Üblicherweise schlägt sich das in Formulierungen wie, dass man auch schon ganz andere kleinbekommen habe, nieder. Jedes abschreckende Moment musste zwangläufig in die Hose gehen, wenn man die Beinkleider seiner Ausweglosigkeit so offensichtlich herunterlässt.
Lasst mich zucken! Lasst mich zucken!
Als ich hörte, dass einer von ihnen einen Stuhl über die Fliesen zog und es sich auf ihm vor der offenstehenden Zelle bequem macht, kam ich nicht umhin zu sagen: "Also, von zweien habe ich was verspürt. Na ja, etwas. Aber von dem dritten... das war bestimmt unser Klausi mit seinem Kleinmädchenschlag."
"Halt deine Fresse, sonst gibt’s was ohne Decke!"
"Na gut. Dann bedanke ich mich ganz artig."
"Schnauze!"
Recht hatte er insofern, als dass ihre Bummis ohne den Schutz einer Decke weitaus schlimmere Verwüstungen auf meinem Rücken hinterlassen hätten. Aber auch mit Decke konnten sie ganz ordentliche Schäden an beispielsweise den Nieren verursachen.
Das zärtlich Bummi genannte Schlagwerkzeug war in Fachkreisen als gemeiner Totschläger bekannt. Es bestand aus drei biegsamen Teleskopgliedern an dessen vorderem Ende eine Stahlkugel eingelassen war. Dieses Gegengewicht bewirkte, dass sich bei jedem Schlag die dunkel-braun gummierten Glieder liebevoll an die jeweilige Rundung schmiegte; die Spitze mit der Kugel herumpeitschte und garantiert irgendwo am Körper einen Gruß hinterließ. Schlugen sie etwa von vorn auf die Schulter, passten sich die Glieder kaum spürbar den Konturen der Schulter an. Die Kugel aber schlug schmerzvoll auf dem Rücken ein. Betäubender Schmerz und Blutergüsse waren, mit etwas Glück, das Resultat dieses teuflischen Instruments, das klein und handlich, wie ein Mini-Regenschirm an jedem Schließerhandgelenk baumelte.
Draußen auf dem Flur verkündete ein piepsendes Stimmchen, es habe Mittagessen für mich.
"Der will heute nichts", wies ihn mein Aufpasser ab.
"Doch, ich will!", rief ich so laut es meine ungemütliche Pose erlaubte.
"Schnauze da drinnen! Und du hau mit dem Futter ab!"
Wie lange ich verknotet im Bett lag, vermochte ich nicht genau abzuschätzen. Es mussten Stunden - oder auch Monate - gewesen sein, und ich musste dringend mal auf den Topf.
"Wenn ich schon kein Essen bekomme, kann ich dann wenigstens aufs Klo?"
Wer so lange wie ich auf dem Bauch liegend ans Bett gefesselt ist, der entwickelt seine eigene Logik.
"Nix da!"
"Ich muss pissen! Dringend!"
"Mach meinetwegen in die Hose!", empfahl er und lachte gehässig.
Nachdem der Druck von meiner Blase gewichen war, bat ich ihn, meine Wäsche wechseln zu dürfen. Irgendwie musste ich seine Anweisung falsch interpretiert haben, denn er kam zur Tür hereingestürzt, traktierte mich mit seiner Phallusprothese und schrie hysterisch: "Die alte Drecksau! Pinkelt diese Sau doch Tatsache ins Bett! Diese Drecksau!"
Und es war so schrecklich, so verdammt schmerzvoll, doch ich lachte. Ich lachte laut und handelte mir zusätzliche Schläge ein. Na bitte: Programm auswendig gelernt. Nahm er vielleicht an, ich lache über ihn? Wie Recht er doch hatte.
"Hauptwachtmeister!"
"Die Drecksau hat ins Bett gepinkelt", verteidigte er kleinlaut sein Tun.
"Raus! Raus! Raus!"
Borrmann stand unmittelbar neben mir. Ich roch seine schweißgetränkte Unterwäsche. Oder war es Rasierwasser?
"Halt! Nehmen Sie ihm die Fessel ab."
"Ich bitte darum", murmelte ich und summte eine Melodie. Ich glaube, die eines Kinderliedes.
Murrend löste er die Eisen. Ich rollte mich auf die Seite und sah hinauf zu Borrmann. Und jetzt reichts mir. Endgültig! Morgen lasse ich mich kopieren. Dann kannst du auf den anderen eindreschen.
Zu den Schmerzen meines Rückens kamen nun noch die Druckstellen der Handschellen hinzu. Ich rieb die Gelenke meiner Hände und setzte an, die der Füße zu erreichen, doch war der Schmerz nicht auszuhalten. Mein Rücken strafte mich unbarmherzig ab, drehte oder bog ich ihn auch nur eine Winzigkeit.
"Für den Schaden, den Sie hier angerichtet haben, werden Sie aufkommen müssen. Packen Sie zusammen und gehen Sie auf Kammer duschen und umziehen. Eines verspreche ich Ihnen, so wie bisher machen Sie nicht mehr lange weiter. Ich werde Ihren dummen Stolz brechen."
"Ach, und gar nicht mein Rückgrat?"
"Dein elend großes Maul auch."
Glaubte der denn, ich bereite ihm Ungemach? Recht hat er! Ich sah ihm ins Gesicht, gähnte mit weit aufgerissenem Mund bis sich meine Augen mit Tränen füllten, schlug die plombierten Zähne klirrend aufeinander, sog zischend Speichel durch sie und wackelte gewichtig mit dem Kopf.
"Wirklich zu dumm, dass ich nur noch etwas mehr als dreieinhalb Jahre hier sein darf", und mein Körper schmerzte mit jedem Atemzug mehr.
Stolz hatte ich ohne Zweifel. Doch mehr noch hatte ich Angst. Ohnmächtige Angst vor dem, was Klausi aus mir machen könnte. Seine Macht schien unbegrenzt. Ich war viel zu jung, um mir ein Leben in der Psychiatrie - ganz ohne Disco, Mädchen und Bier - vorstellen zu wollen. Weit weniger freilich, im Pflegebett eines muffigen Knastkrankenhauses, gefesselt an eine Beatmungsmaschine. Eben diese Angst war es, die alles mobilisierte und mir ungeahnte Kräfte des Widerstands verlieh. Vor allem dann, wenn ich mal wieder an der Richtigkeit meines Handelns zweifelte.
IV
Wann wurde ich, was ich bin? Wie ich mich kenne, mit dem Tag meiner Geburt. Spätestens aber vor vier Jahren. Damals, ich war schlanke Vierzehn, standen zu einem höchst unpassenden Zeitpunkt die Feierlichkeiten anlässlich der Aufnahme in die Freie Deutsche Jugend an. Kein Achtklässler wurde verschont. Natürlich auch ich nicht, weshalb ich mich selbst verschonen und ins Stadion verdrücken musste. Einem Fußballspiel von Dynamo Dresden beizuwohnen, erschien mir ergreifender und zwangloser als die freiwillige Aufnahme in die FDJ. Sport hatte einen unvergleichlich höheren Stellenwert für mich als irgendwelches steifes Blauhemdentheater.
Schon als Sechsjähriger begann ich aktiv Fußball zu spielen. Und mit zwölf erfüllte sich mir ein ganz, ganz großer Traum: Als Ballholer nahm ich fortan an sämtlichen Dynamo-Spielen teil. Direkt am Rasen, in unmittelbarer Nähe der von mir verehrten Stars.
Weder meine Klassenleiterin noch die Schulleitung zeigten Verständnis für meinen Sport und sprachen mir einen Tadel aus. Ein herber Rückschlag für einen, der sich zu den besten der Klasse zählen durfte.
Wer suchte die Konfrontation? War ich es, der provozierte? Oder sie, beständig auf der Suche nach dem Erlebnis ihres unbefriedigten Daseins? Wer weiß das schon so genau. Jedenfalls häuften sich seither die Vorkommnisse.
Einmal spazierte ich in einer rosaroten Jeans mit braunen aufgesetzten Taschen zur Schule. Auf dem rechten Knie prangte ein handtellergroßes schneeweißes Zeichen. Ein Symbol, nichts als ein Symbol, welches an das heiß begehrte Sammlerobjekt Mercedes-Stern erinnerte, nur, dass der mittlere Balken nach unten durchgezogen war. Ich glaube, es hatte irgendwas mit Frieden zu tun.
Nun ja, eigentlich hatten wir ja eine dressierte weiße Taube. Eine, die keine Fensterbretter vollkleckert.
Wie auch immer: das Ding kam aus dem Westen und sah gar nicht so übel aus. Von einem Foto auf der ersten Seite unserer Zeitung sprang es mich an. Es war das einzige Bild dieser Ausgabe, und es war auch größer als sonst.
Eine Menschentraube mit aufgerissenen Mündern, auf irgendeinem Platz in Westberlin, wie ich dem Text unter dem Foto entnahm. Einige hielten Papierschilder mit dem Zeichen über ihre und die Köpfe der anderen. Es war wohl ein sehr wichtiges Symbol für sie.
Lange betrachtete ich das Foto, bevor ich das Symbol abmalte, auf einen quadratischen weißen Bügelflicken übertrug, ausschnitt und über ein kleines Loch meiner Lieblingshose bügelte.
Versuche meiner ausrastenden Klassenleiterin, es mit Zornesröte und unpädagogischer Gewalt abzureißen, scheiterten an meinem erbitterten Widerstand. Kurzerhand verbot sie mir, die Hose zu tragen. Wollte wohl sehen, ob und was ich darunter trug, das Ferkel. Natürlich zog ich meine Hose nicht aus. Ich trug sie weiterhin - auch in der Schule.
Mit jedem Verbot, mit jeder Drohung wich mein Respekt ein Stück weiter vor ihnen zurück.
Auf den Gipfel hievten, oder besser, katapultierten sie mich, als des Volkes Polizei meinen Personalausweis kassierte und mir stattdessen eine PM 12 in die Hand drückte. Ein kleines ordinäres Faltblättchen mit meinen persönlichen Daten und Lichtbild. Damit nicht genug: Sie machten mir auch noch zur Auflage, bei ihnen kniefällig zu werden und untertänig um Erlaubnis zu bitten, wollte ich die Stadt verlassen.
Zeitgleich flog ich aus meinem Fußballverein, verlor meine Stelle als Ballholer und auch die Tore der Gesellschaft für Sport und Technik, wo ich Sportschießen und Segelflug trainierte, blieben von da ab für mich verschlossen. Das saß.
Stück für Stück zerbröselte eine Welt um mich herum, die ich nicht mehr verstand. Geräuschlos, ohne Staub, ohne Lärm.
Und ich, noch nicht ganz sechzehn, verkroch mich in schummrigen Kneipen, soff vom Schulschluss bis zur Polizeistunde und sah illusionslos desinteressiert dabei zu. Niemand fragte nach mir. Nach einem, den es nicht gibt, lässt es sich schlecht fragen.
Tja, und keine drei Monate später saß ich hinter Gittern.
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