Wollter

Thriller-Drama nach wahren Begebenheiten

Über den Tatsachen-Roman

Die Erlebnisse eines 16jährigen Schülers in der DDR, der aus politischen Gründen zu mehreren Jahren Haft verurteilt, inhaftiert und viele Monate in verschärfter Einzelhaft verbringen musste, sind Grundlage dieser spannenden wie auch ereignisreichen und dramatischen Geschichte des Romanhelden Wollter, der nach der Haft mit 18 Jahren gegen seinen Willen aus der DDR ausgebürgert und in die BRD abgeschoben wird. Wollter, der mit den Verhältnissen in der BRD nicht vertraut ist, der dort keine Verwandten oder Bekannte hat und dem weder Behörden noch Organisationen helfend unter die Arme greifen, findet nur Anschluss zum kriminellen Milieu. Er wird verhaftet und kann - sarkastisch gesagt - nun Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen DDR-Knast und BRD-Strafvollzug am eigenen Leibe erleben.

Der erfolgreiche Roman Wollter ist ein rasanter Thriller, dessen Haupthandlungen sich in der Zeit von Mitte der 1970er Jahre bis Ende der 1980er Jahre ereigneten.

Ein überaus intensives Leseerlebnis bietet Ihnen das Thriller-Drama Wollter.
Gebundene Ausgabe

Wollter

Thriller-Drama von

Olaf W. Fichte

Wollter: Sechster Teil

Autor: Olaf W. Fichte (Kommentare: 0)

V

"He, bleib da! Was ist mit dem Ramsch hier?"
Kurzatmig und um mindestens zehn Jahre gealtert schob ich mich durch die Tür, hielt nach seinem Aufschrei inne und drehte mich bedächtig, um den Schmerz in meinen Gliedern nicht wachzurütteln, nach ihm um. Er stand vor dem Bett, sah mich mit verengten Augen an und hielt seinen Bummi wie einen Zeigestock auf den Sack gerichtet, in dem sich alles befand, was ich zwei Wochen zuvor mitgebracht und nun wieder im Bettbezug verstaut hatte.
"Na, sicher doch, erst zertrümmert ihr mir das Kreuz, so dass ich mich kaum fortbewegen kann, und dann soll ich auch noch Säcke schleppen? Vergiss es!"
Sonderliche Lust auf Umzug hatte ich sowieso keine.
"Und was wird dann damit?"
Sein Ton hangelte sich auf eine zunehmend aggressivere Ebene.
"Nehmen Sies als Dank für die schöne Zeit", sagte ich und fügte leise, während ich mich von ihm abwandte, hinzu: "Schlepp es selbst und mach dich zum Affen."
"Was?!"
"Was?"
"Was hast du geschwafelt?"
"Nichts weiter. Nur, dass Sie es auch den Iwans spenden können, wenn Ihnen danach ist."
"Verschwinde! Aber hurtig!"
Was leichter gesagt als getan war. Ohne den Schließer, der meinen Bettbezugsack übrigens durch den halben Knast buckelte und sich dabei anständig zum Affen machte, kam ich nicht weit - schon gar nicht zur Kammer, wo eine reinigende, eine heilende Dusche auf mich wartete.

Die Kalfs begrüßten mich wie einen alten Bekannten mit festem Handschlag und einem Lächeln, dass ihre Freude über unser Wiedersehen akzentuierte. Oder machten sie sich lustig über mich? Nein, nein, ihre Freude war ganz bestimmt echt.

Einer steckte mir in einem unbeobachteten Moment eine Bleistiftmine zu. Plötzlich hatte ich das Gefühl nicht mehr allein zu sein. Auf eine eigentümlich zufriedene Weise fühlte ich mich heimisch. Die Jungs aus der Nachbarschaft schlossen Freundschaft mit dem Zugezogenen.

Und als ich in meinem Bunkerloch Nummer eins eintraf, schallte es, kurz nachdem sich der Schließer verzogen hatte, aus der Nebenzelle: "Scheems, bist du’s? Komm ans Fenster!"

Seither unterhielt ich mich, oftmals stundenlang, mit meinen Nachbarn, ohne sie je zu Gesicht zu bekommen. Und manchmal, wenn wir uns sicher glaubten, dass kein Schließer durchs Gebäude schlich, sangen wir mit dröhnenden Stimmen Knastlieder. Nur leider waren die anderen Zellen viel zu selten belegt.

Von Tag zu Tag ging es mir besser. Jeder Gedanke an Aufgabe wurde mir fremd. Ich fühlte mich und die Richtigkeit meines Handelns durch die Aufmerksamkeit der anderen bestätigt.

Vormittags bekam ich nun auch in der Einzelhaft die JUNGE WELT. Offenbar spekulierte Borrmann, mich durch deren Lektüre in meiner Einstellung beeinflussen zu können. Obwohl ich mir viel Zeit beim Lesen ließ, verkürzte sie die Tage nur unwesentlich. So begann ich das tägliche Kreuzworträtsel auszufüllen, gab nach dem Mittagessen Napf und Zeitung zurück und wartete geduldig auf meine Zerstreuung. Das Ergebnis ihrer Auswertung präsentierten sie mir stets nach meinem Mittagsschläfchen. Fixe Jungs! Sie stürmten herein, zerrten mich vor die Tür und filzten meine Wohnung. Komplett versteht sich. Gefunden haben sie freilich nie, wonach sie suchten. Wie auch - ich trug die Mine im Mund unter der Zunge. Und da ich die Zeitung weiterhin erhielt, etablierte sich unser kleines Spielchen zu einem festen Bestandteil und lockerte so meine Tage auf. Ich möchte fast sagen, es ritualisierte sich und machte mich geradezu süchtig. Denn nach dem Essen wartete ich sehnsüchtig auf meinen Nachtisch - die Abwechslung. Und ich wurde nie enttäuscht.

Es dürfte etwa der zehnte Tag gewesen sein, als ich mich durch mein Mittagessen löffelte und plötzlich stutzend innehielt.

Ja, richtig, ich bekam nun ein üppiges Mittagessen. Und, jawohl, ein warmes. Wenn auch nur lau, so gab es mir doch Momente eines warmen, hellen Gefühls der Geborgenheit - bis ich die Schüssel geleert, aufsah und mich kalt das eisige Dunkel traf.

Rein akustisch barg das Wort Fruggeneintopf etwas positiv Rätselhaftes in sich. Doch vermutlich gibt es nichts Schlimmeres als in einem dunklen Loch auf einem Holzbrett zu sitzen, einen Toilettenkübel im Rücken und übelriechende Futterrüben, angebaut für unsere vierbeinigen Fleischlieferanten (Was, verdammt noch mal, ist Fleisch?), in sich schaufeln zu müssen. Ich hasste dieses ekelhafte orangerote, gläsern, schlabberige Zeug, das zum Montag gehörte wie andernorts Fisch zum Freitag.

So saß ich nun leidend über dem Futtertrog gebeugt und stellte nicht ohne Verwunderung fest, ein Päckchen von der Größe einer Zündholzschachtel auf meinem Löffelchen vorzufinden. Mit wildem Herzklopfen löste ich sein schützendes Plastikkleid und warf es in den Kübel. Dem Geheimnis des Innern ging ich erst auf den Grund, nachdem Schüssel und Zeitung abgeholt waren.

Ich war überwältigt. Tränen der Freude standen mir in den Augen, als ich las, was auf einem der zusammengefalteten Zigarettenpapierchen stand: "Kopf hoch! Halte durch!".
Zwischen den Fingern hielt ich Tabak, richtige Zigarettenpapierchen, eine große Bleistiftmine; eine halbe Rasierklinge, mit der sich weitaus besser und komfortabler als mit einer Glasscherbe Funken erzeugen ließen, und einen fast zwei Zentimeter langen Feuerstein - das alles schickten Unbekannte und opferten mir ein kleines Vermögen. Allein für einen Feuerstein dieser Größe musste ein gesamtes Monatseinkommen hingeblättert werden.

Ichtershausen, das, wie ich eingangs anriss, aus einem uralten Kloster hervorging, bestand zu einem erheblichen Teil aus hauchdünn verputzten Strohwänden und knarrenden Dielenböden. Zündhölzer und Feuerzeuge waren wie so vieles andere unter Androhung von Strafen strengstens verboten.
Natürlich galt das nicht für mich. Denn ich zeigte ihnen die Brust und rauchte wann immer mir danach war, während die armen Teufel da draußen auf das Wohlwollen der Erzieher angewiesen waren. Die hielten sich in jeder Gruppe einen Fackelträger, der seine Schwungradelli nur auf ihr ausdrückliches Kommando hin anwerfen durfte.

Etwa zur Freistunde auf dem Hof oder im Duschraum auf der Station, der Platz für fünf Duschköpfe, ebenso vielen Waschbecken und zwanzig bis dreißig Schulter an Schulter schmauchenden Jugendlichen bot.

Nie habe ich erfahren, wem ich dieses und alle weiteren Kopfhoch-Gaben, die ich in den folgenden Wochen immer montags aus meiner Fruggenschüssel angelte, verdankte.

Die Zeit schritt voran, legte ein atemberaubendes Tempo vor. Schon waren wieder zwei Wochen vorüber. Teilte ich anfangs die Tagesabschnitte in Frühstück, Zeitung, Freistunde, Mittag, Kübel, Schläfchen, Filzung, Abend, Sport und schlafen ein, freute mich über jede zurückgelegte Teilstrecke, strich mit dem Löschen des Lichts den überstandenen Tag gedanklich ab und sehnte mich dem letzten Frühstück entgegen, so empfand ich den nahenden letzten Tag nunmehr als erschreckend und Borrmanns Einlage als lästig. Oder war es mit mir so weit? Verlor ich den Überblick? Sagte ich nicht noch am Morgen zu meinem Begleiter, er habe sieben lange Tage jede Gelegenheit zum Verschwinden ungenutzt gelassen; und die nächsten sieben Tage könne ich gut ohne ihn auskommen?

Klaus war schon da, als ich einzog. Ich wusste nicht, woher er kam. Er war einfach da und breitete sich in meinem Vestibül aus. Klaus kannte sich gut aus, hielt Abstand, weil er wusste, dass mich mein Zaun hinderte, zu ihm oder auch nur in seine Nähe zu gelangen. Schamlos krabbelte er umher, kreuz und quer, strickte sich ein Zuhause und entzog sich immer wieder meinen Annäherungsversuchen. Bis zu diesem Tag, an welchem er zu seinem letzten Wettlauf gegen mich antrat, ihn führte und im Kübel endete, der Dummkopf. Selbst als dürres, langbeiniges Spinnentier hätte er wissen müssen, dass es hier für zwei Leben zu eng, die Luft für mehr als ein Lebewesen einfach viel zu dünn war.

"Wie geht’s?", fragte Klausi, vor meinem Zaun lauernd. Seine beiden Lakaien hatte er links und rechts der Tür abgestellt.
"Sie sehen mich leiden. Mit welchen Annehmlichkeiten wollen Sie mich denn diesmal beglücken?"

"Auf Gruppe?"
"Wie darf ich das verstehen?"
"Sich in die Gemeinschaft einordnen."
"Dann kommen Sie nächstes Mal, und ich bin weg? Gar nicht mehr hier? Nö! Ich kann unmöglich auf Ihre aufbauenden Besuche verzichten."
"Arbeiten?"
"Sehr gern. Aber nicht für fünf Mark im Monat."
"Wissen Sie, was Arbeitsverweigerung ist. Im günstigsten Fall fassen Sie fünf Jahre Nachschlag ab. Was halten Sie davon?"
Und was hältst du davon, mir mal zu flüstern - muss ja nicht gleich jeder mitbekommen -, was hier läuft, was du willst, was ihr von mir wollt?
Ohne seinen höchst gelangweilt dahergesagten Worten eine unmittelbare Bedrohung zu entnehmen, wurde mir doch einigermaßen mulmig in der Magengegend. Ich glaubte ihm kein Wort. Doch beschleunigte sich der rhythmische Schlag meines Herzens, als ich an das Eiltempo meiner wenige Monate zurückliegenden Verurteilung vor dem Bezirksgericht dachte. Der Richter verdonnerte mich aufgrund an Haaren herbeigezogener Beweise. Er nannte es Beweise. Ich nannte es Scheiße.

Auch wenn Borrmann wie zu einem Fünfjährigen sprach, entging mir doch sein drohender Unterton nicht. Er wusste, was er sagte. Und ich wusste, dass ich weder in diesem noch einem anderen Loch fünf weitere Jahre unbeschadet überstehen würde.
Den Nachdenklichen mimend legte ich meinen gestreckten rechten Zeigefinger an die Unterlippe, sah Borrmann bohrend in die Augen und sagte: "Raten Sie mal, wie alt ich dann sein werde."
Juhu! Borrmann explodierte aus dem Nichts. Speichel, cremig wie aufgeschlagenes Eiweiß, quoll aus der Datschenbräune seines Gesichts, als er schrie: "Ich werde dich hier drinnen verrecken lassen! Schafft ihn mir aus den Augen! Raus! In Absonderung den ... das ... mit dem asozialen Müll!", und stürzte hinaus.

Während der folgenden Monate besuchte mich Klausi nur noch jede vierte Woche. Immer am letzten Tag der Einzelhaft. Er war wohl böse mit mir.

Und ich mit ihm. Ich pfiff auf ihre dämlichen Vorschriften und zeigte ihnen bei jeder Gelegenheit die Brust. Strafe muss sein.

Nahezu täglich brachen sie meine Minuten unter freiem Himmel ab, weil ich nicht gehorchte und, gleich einem trotteligen Esel, stur im abgesteckten Kreis trottete, sondern gazellenhaft kreuz und quer über den Hof hopste und - o, ganz schlimm - Zellennachbarn oder vorbeiziehende Mithäftlinge ansprach.

Copyright © 1993 - 2024 by Olaf W. Fichte, Germany. Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Der Roman Wollter beruht auf tatsächlichen Ereignissen.


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