Wollter
Thriller-Drama nach wahren Begebenheiten
Über den Tatsachen-Roman
Die Erlebnisse eines 16jährigen Schülers in der DDR, der aus politischen Gründen zu mehreren Jahren Haft verurteilt, inhaftiert und viele Monate in verschärfter Einzelhaft verbringen musste, sind Grundlage dieser spannenden wie auch ereignisreichen und dramatischen Geschichte des Romanhelden Wollter, der nach der Haft mit 18 Jahren gegen seinen Willen aus der DDR ausgebürgert und in die BRD abgeschoben wird. Wollter, der mit den Verhältnissen in der BRD nicht vertraut ist, der dort keine Verwandten oder Bekannte hat und dem weder Behörden noch Organisationen helfend unter die Arme greifen, findet nur Anschluss zum kriminellen Milieu. Er wird verhaftet und kann - sarkastisch gesagt - nun Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen DDR-Knast und BRD-Strafvollzug am eigenen Leibe erleben.
Der erfolgreiche Roman Wollter ist ein rasanter Thriller, dessen Haupthandlungen sich in der Zeit von Mitte der 1970er Jahre bis Ende der 1980er Jahre ereigneten.
Wollter
Thriller-Drama von
Olaf W. Fichte
Wollter: Fünfundzwanzigster Teil
Zwanzig Minuten malträtierte er im holzgetäfelten Wohlfühlzimmer meine Reflexe mit einem kleinen Hämmerchen – und ich plapperte und plapperte.
Heiser knöpfte ich mein Hemd zu und hielt ihm die Hand zum Abschied hin.
„Wie sieht’s aus? Komme ich raus?“
„Ich schreibe meinen Bericht und gebe ihn der Staatsanwaltschaft. Meine Aufgabe ist hiermit getan“, sagte er, vergrub sich in seiner Schreibtischfestung und öffnete eine etwa zwei Zentimeter dicke, in rotbraunen Karton eingeschlagene Mappe.
Eher zufällig sah ich auf das, was er vor sich ausbreitete. Eigentlich interessierte es mich nicht, ging mir schließlich auch nichts an. Doch kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, sah ich ein zweites Mal hin. Diesmal genauer.
„Stimmt was nicht?“, fragte Kurzgarten und legte beide Unterarme übers Papier.
Der Hungerknochen konnte mich mal. Ich griff zu, schnappte mir die Blätter und ließ sie blitzschnell durch die Finger gleiten.
„Ich will ja nicht meckern, aber gesagt werden muss es ja: Was ist das für eine gequirlte Scheiße hier?!“
Kurzgarten erhob sich. „Mäßigen Sie sich!“
Ich beugte mich über den Schreibtisch, versetzte ihm einen Puffer knapp unterhalb des linken Schlüsselbeins, schrie: „Platz!“, und ein zahmer, gar nicht mehr so jugendlich wirkender Doktor rutschte in seinen hochlehnigen Angeberledersessel, verschränkte trotzig die Arme vor der Brust, sah an mir vorbei und hielt die fleischigen Lippen verschlossen.
In meinen Händen hielt ich Fotokopien der Brief, die ich schrieb, aber nie abschickte. Doch nicht nur das, auch Kopien meiner Anwaltspost. Ich ging um den Schreibtisch herum und baute mich neben ihm auf. Irgendwie hatte ich das Gefühl, jetzt richtig böse werden zu müssen.
„Wie kommt das hierher?“
„Ich weiß nicht“, und machte Anstalten, seinen Sessel nach rechts drehen zu wollen, um sich mir direkt zuzuwenden.
Doch ich hielt das Ding an der Lehne fest. Sollte er sich doch den Hals verrenken, dann kann er auch morgen noch an mich denken.
„Ich meine, ich dachte, Sie wüssten, dass Ihre gesamte Korrespondenz abgelichtet und abgeheftet wird.“
„Bin ich Jesus? Korrespondenz also. Soso. Welche Korrespondenz, bitteschön? Anwaltspost geht verschlossen raus und rein. Und die anderen wissen noch nicht einmal, wie ein Briefkasten von innen aussieht.“
„Das müssen Sie mit Ihrem Richter abklären. Sie reagieren sich am Falschen ab.“
Hinter mir krachte die Tür ins Schloss. Obwohl die bauchige, dunkelgrüne Polsterung auf der Innenseite den Knall dämpfte, war es laut genug, meine beiden Leibgardisten zusammenfahren zu lassen.
„Am Falschen. Wie lustig.“
Ich ging. Und ich war sauer. Echt total stinke sauer. Ich ärgerte mich über dieses heimtückische Knochengerüst und auch darüber, dass ich mich von einem blöden Sessel habe übertölpeln lassen.
Drei Wochen nach Kurzgarten schaute Jamon vorbei.
„Heute kam das Gutachten vom Landgerichtsarzt – hier“, verkündete sie auffallend ausgelassener Stimmung und reichte mir drei großzügig beschriebene Blatt Papier.
„Und, wer übersetzt mir das? Steht da was von meiner Verhandlung drin?“
„Ja, hm, ich weiß auch nicht. Dem Gutachten nach, wird in den nächsten zwei Wochen entschieden, ob Sie auf eine geschlossene Abteilung verlegt werden. Ich kenne den Richter. Er ist noch nie von der Empfehlung eines Gutachters abgewichen.“
„Was sollte denn geschlossener als Knast sein? Schicken die mich etwa zurück in die DDR?“
„Die Psychiatrie.“
„Ich soll in die Klapse?!“
„Psychiatrie. Ist alles halb so schlimm. Sobald der Richter entschieden hat, wird es noch etwa drei Wochen dauern, bis Sie einen Platz erhalten. Nach der Einweisung wird man Sie vier bis sechs Wochen beobachten und im Anschluss ein Gutachten erstellen. Liegt das Gutachten dann der Staatsanwaltschaft vor, dauert es nur noch zwei bis drei Monate, bis die Anklageschrift geschrieben und der Termin zur Hauptverhandlung angesetzt ist. Bis dahin werden vermutlich weitere zwei Monate vergehen. So in etwa sieht der Fahrplan aus.“
„Danke, für die Aufmunterung. Ich will das nicht noch einmal mitmachen. Ich brauche kein Gutachten. Was die treiben, ist verboten. Die sind nicht besser als ich. Nur kriegen die Geld dafür, und mir wird die Wohnung genommen. Nix da, auf Irrenanstalt habe ich echt keinen Bock.“
„Psychiatrie.“
„Darauf auch nicht. Ich will meine Verhandlung. Ich will endlich Klarheit. Und ich will hier raus. Aus!“
„Das ist nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen. Wir haben uns an gewisse Spielregeln zu halten. Ein von der Staatsanwaltschaft angeordnetes Gutachten muss durchgeführt werden. Das ist zwingend. Machen Sie das Beste daraus. Und unterschätzen sie sein Gewicht vor Gericht nicht. Es hat keinen Zweck, sich gegen die Anordnung zu wehren. Es sei denn, Sie bringen einige tausend Mark auf, um von unabhängigen Gutachtern ein Gegengutachten erstellen zu lassen. In der Regel fallen die anders aus als die der Staatsanwaltschaft. Den Antrag würde ich noch heute einreichen. Zwanzigtausend Mark sind keine Seltenheit. Haben Sie so viel?“
„Nicht hier. Auf Zelle.“
Jamon riss die Augen auf, ihre Lippen öffneten sich einen Finger breit.
Gelassen zündete ich mir eine weitere Zigarette an und genoss den Augenblick. Glaubte sie denn, ich würde hier sitzen und ihre Franzosen schnorren, hätte ich so viel Kohle? Ihrem Gesichtsausdruck nach, ja. Wirf es weg!
„Natürlich habe ich nichts. Wissen Sie, ich sitze wegen Einbruch. Und wo ich rein bin, da gab es keine Goldreserven zu klauen. Da gab es nämlich gar nichts. Das ist doch ...!“
Jamon erschrak. „Bitte?“
Während ich sprach, las ich quer im Gutachten und erkannte plötzlich, dass mir Kurzgarten ein unaufgeräumtes Oberstübchen attestierte. Das war nicht sehr nett. Das war richtig gemein. So gemein, dass mir die Augen tränten, sich mein Puls beschleunigte und meine feuchten Hände das Papier an den Rändern aufweichte.
„Laaa... sen Sie mmm... mir ddd... daaaaaas hier.“
„Geht es Ihnen gut?“
Ich habe keine Aktien, wenn du das meinst.
„Und Ihnen?“
„Gut. Morgen muss ich zum Landgericht. Gleich in der Früh komme ich vorbei. Bringen Sie mir das Gutachten und die Polizeiakte mit.“
„Mei... meine Anwaltsssspost und aaaa... andere Brie... fe werden kopiert.“
„So was gibt es nicht. Wie kommen Sie auf so was?“
„Bei Kurzgarten. Haaabe ich in der Akte gesehen. Der hat alles zusammengerafft, der Geier.“
Jamon nahm sich eine Zigarette. Es war das erste Mal, dass ich sie rauchen sah.
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Wer weiß, was Sie gesehen haben“, sagte sie leise.
„Ich möchte die Ermittlungsakte. Kopieren Sie sie mir?“
„Bei allem Verständnis, aber das geht wirklich zu weit. Den Aufwand bekomme ich von niemandem ersetzt.“
Die ganze Nacht machte ich kein Auge zu. Ich saß am Fenster, rauchte und blinzelte in das orangene Licht der Knastsonne.
Wo bin ich hier nur hingeraten? Behandelt man so einen Dieb? Ist denn ein bisschen Respekt zu viel verlangt? Eine Schande, dass das Wort eines Menschen, der Aloisius heißt so viel Gewicht hat. Er schrieb über einen „Herr W.“. Mit „Herr W.“, meinte er mich. Wirklich wahr! Es tat nicht weh. Nicht sehr, jedenfalls. So lächerlich ist mein Name ja nun auch wieder nicht. Würde ich Schweinearsch oder Kuhschwanz heißen, na gut. Aber so. Auf der anderen Seite der Mauer war ich meistens Wollter ohne Herr und nur sehr, sehr selten Herr W. Aber dieser Herr W. hier, der im Westen, der ist gestört. Auch das tat nicht weh, nein, es machte mir Angst. Allmählich fing ich an, mich zu fragen, ob ich mir die Schräglage in der DDR eingefangen habe.
Aloisius schrieb in der Betreffzeile seiner psychiatrischen Stellungnahme „wegen Raub“. Das tat auch nicht weh, Räuber sein ist schon okay. Hat auch was Geschichtliches. Allen Räubern wurde ein Dachschaden angedichtet. Es wunderte mich nur, weshalb ich nicht mehr unter Verdacht stand.
Doch so richtig schön heftig wurde es, als ich zu den drei Zeilen kam, in denen er meine Ausbürgerung anzweifelte. Macht nichts, sagte ich mir, bin ich eben vom Himmel gefallen, meinetwegen auch vom Klapperstorch vors Scheunentor gefledert. Wer bin ich denn, einem Dr. med. widersprechen zu wollen. Obwohl, es würde sich mit seiner Beurteilung decken. In der hieß es nämlich: „Ohne Kenntnis realistischer Hintergrundinformationen, die auch kaum zu erhalten sein dürften, entsteht der Eindruck, dass bei Herrn W. ein ausgeprägtes Wahnsystem vorliegt.“
Wahnsystem? Wer weiß, was das heißt. Vielleicht Wahnsinn mit System? Oder nach System? Oder ohne System? Ich bin voll blöd, aber ein System ist nicht zu erkennen. Hat ein System, wer blöd ist? Oder ist er nicht selbst dazu zu blöd? Also ich, ich bin, denke ich mal, einfach zu blöd für Wahnsinn. Und ein System habe ich sowieso keines. Ehrlich wahr! Bin ich doch auch viel zu blöd dazu. Na, schnurzpiepegal. Ein Profi war das jedenfalls nicht.
Westen, du enttäuschst mich.
Die folgenden beiden Nächte schlief ich recht gut, die dritte dann schon wieder weniger.
Als ich Mittag zum Essen auf die Station kam, erhielt ich einen blauen Brief. Überraschung! Post vom Gericht war meist von einem blauen Umschlag umhüllt. Sollte wohl beruhigend wirken. Tat es aber nicht. Bei niemandem. Es genügte schon etwas Blaues in der Hand des Schließers, wenn er in der Tür stand und nach einem letzten Blick darauf artig den Namen des Empfängers aufsagte. Schlagartig reagierte der Körper mit einem Flüssigkeitsverlust, der dem nach einem Wüstenmarathon gleichkam.
Die beruhigende Botschaft enthielt einen Beschluss der 25. Strafkammer. Richter Hoßt ordnete an, dass ich „zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand in die Nervenklinik der Universität München gebracht und dort auf die Dauer von höchstens 6 Wochen beobachtet“ werde, da der „Eindruck entstehe, dass ein ausgeprägtes Wahnsyndrom vorliege.“
Und hoffnungsvoller: „Zur Abklärung ist eine längere Beobachtung in einer stationären Unterbringung erforderlich.“
„Die Verteidigerin“, so der Schlusssatz, „des Beschuldigten wurde gehört.“
Na, darüber hätte ich schon ganz gern mehr gewusst. Oder auch nicht, denn Saft spritzt immer aus dem Inneren. Um ihn genießen, in seinem vollen Umfang erfassen und auskosten zu können, setzte ich mich – auf den Klodeckel.
„Die Voraussetzung des § 81 StPO sind erfüllt. Das Gericht hält die Unterbringung gemäß § 81 StPO für unerlässlich. Im Rahmen der Begutachtung sind zu klären die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Beschuldigten und die Frage, ob von ihm infolge seines Zustandes weitere erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind. Die Unterbringung steht auch zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe und/oder Maßregel der Sicherung und Besserung nicht außer Verhältnis.“
Stand sie doch! Eine saftige Sicherungsverwahrung bekamen, wenn überhaupt, mehrfache Wiederholungstäter aufgebrummt. Zeitlebens würden die keine U-Bahn mehr fahren. Schwarz schon gleich gar nicht.
Ich aber wollte. U-Bahn fahren macht Spaß. Ich war kein verdammter Wiederholungstäter. Ich war ein Erstling, eine Erstausgabe, eine Eintagsfliege, ein Ersttäter – und ein Räuber ohne Beute, der sich freiwillig stellte. Und so schrecklich jungfräulich.
Der Mensch kennt nur vier Triebe: Luft, Wasser, Geld und Sex. Ich lasse sie mir nicht nehmen!
Ulkig, der Beschluss trug das Datum des Tages, an dem mich Jamon aufsuchte, um mein Herz für die Sonnenseite auf dem Umschlagplatz für Kretinos vorzuwärmen. Das Luder wollte mich doch nicht meucheln? Ein ganz kleines bisschen nur? Schön langsam vielleicht?
Das kannst du nicht tun, Gutste. Das geht nämlich gar nicht. Du bist meine Anwältin und musst mich beschützen. So sieht’s aus. Besorg mir lieber eine Ohnmacht. Eine ganz sanfte, die mich erst erwachen lässt, wenn die Scheiße hier gelaufen ist.
Ich schleuderte das Papier aufs Bett und überlegte, was zu tun sei. Eine halbe oder eine ganze Minute dachte ich nach, stand dann auf, eilte in die Zelle schräg gegenüber und schlug dem Typ einen vollen Hammer in seine überraschte Visage. Einen von den allerfeinsten, versteht sich. Das tat gut. Ich rieb mir die Knöchel der rechten Hand und ging zurück auf meinen Klodeckel. Das musste sein. War auch richtig böse gemeint. Außerdem durften Blöde so was. Und der Typ hat es auch gebraucht.
Der saß, weil er eine Frau vergewaltigt und ihr dabei ein Messer an den Hals hielt. Die Sau saß schon mal wegen etwas ganz ähnlichem drei Jahre. Diesmal fing er läppische zweieinhalb. Wahrscheinlich verknackten die ihn wegen illegalem Fleischmesserbesitz oder so was. Und mir drohte ein Qualm von fünf Jahren, und zwar ohne zwangsvögeln.
Wer von uns beiden verletzte eigentlich die Würde eines Menschen? Ich, ganz klar. Holzbretter sind auch nur Menschen. Die Sau nicht. Sein Glück, dass für Frauen und Kinder Würde nicht vorgesehen ist. Sein Pech, dass einige wenige wirklichkeitsfremde das einfach nicht gelten lassen wollen. Der Typ sollte viel öfter eine auf die Fresse kriegen.
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