Wollter

Thriller-Drama nach wahren Begebenheiten

Über den Tatsachen-Roman

Die Erlebnisse eines 16jährigen Schülers in der DDR, der aus politischen Gründen zu mehreren Jahren Haft verurteilt, inhaftiert und viele Monate in verschärfter Einzelhaft verbringen musste, sind Grundlage dieser spannenden wie auch ereignisreichen und dramatischen Geschichte des Romanhelden Wollter, der nach der Haft mit 18 Jahren gegen seinen Willen aus der DDR ausgebürgert und in die BRD abgeschoben wird. Wollter, der mit den Verhältnissen in der BRD nicht vertraut ist, der dort keine Verwandten oder Bekannte hat und dem weder Behörden noch Organisationen helfend unter die Arme greifen, findet nur Anschluss zum kriminellen Milieu. Er wird verhaftet und kann - sarkastisch gesagt - nun Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen DDR-Knast und BRD-Strafvollzug am eigenen Leibe erleben.

Der erfolgreiche Roman Wollter ist ein rasanter Thriller, dessen Haupthandlungen sich in der Zeit von Mitte der 1970er Jahre bis Ende der 1980er Jahre ereigneten.

Ein überaus intensives Leseerlebnis bietet Ihnen das Thriller-Drama Wollter.
Gebundene Ausgabe

Wollter

Thriller-Drama von

Olaf W. Fichte

Wollter: Fünfzehnter Teil

Autor: Olaf W. Fichte (Kommentare: 0)

Was war das denn für eine Kultur, die mich in ihre Arme schloss? Gar nicht so einfach. Dazu muss man zunächst einmal wissen, dass es viele Zweige der Kultur gibt. Deshalb ist Kultur nicht gleich Kultur. Oder eben doch. Auf jeden Fall aber hat sie viele Facetten. Eine unverständlicher als die andere. Aber eigentlich auch nicht. Denn Kultur ist immer alt und irgendwie auch neu, aber schon länger da und alle nehmen daran teil. Wenn also jemand seinen Frühstückstisch nicht abräumt, hat er nach vier Wochen eine Frühstückskultur – mitten in der Küche. Und wenn einer etwas ablegt, aber nicht spült, dann hat er nach ein paar Tagen eine, na ja, eben eine andere Kultur im Badezimmer. Daneben gibt es dann auch noch Kulturkreise. Aber das ist nicht so kompliziert. Das sind moderne Lieder singende alte Menschen. So einfach ist das. Muss einem nur richtig erklärt werden – von kompetenter Seite, versteht sich. Ist wohl besser, ich schlafe jetzt.

In der Früh kaufte ich mir eine Bild-Zeitung und verbrachte den Rest des Tages, wie auch den gesamten folgenden, auf ungelüfteten Fluren und in muffigen Zimmern.
Zugegeben, der „Playboy“ reizte mich, insbesondere Hermann, schon auch. Aber ich gab nicht nach, denn ein Playboy war ich nicht, demzufolge auch nicht auf Fachzeitschriften angewiesen. Was ich dagegen wirklich brauchte, war Arbeit oder einen Studienplatz – und eine Wohnung. Eine unendlich große, helle Wohnung. Im Innenteil meldete die Bild-Zeitung auf dreieinhalb Zeilen, dass am Vortag 39 Ostzonenflüchtlinge in die Bundesrepublik einreisten. Obwohl die Zahl übereinstimmte, meinten sie sicher nicht uns. Ich war kein Flüchtling, und aus einer Ostzone kam ich auch nicht. Was ist überhaupt eine Ostzone? Vielleicht eine Art Lager, so was wie in Sibirien?
Scheiße auch, ich bin doch kein Russki!

Mit dem Laufzettel in der Hand lief ich durchs Lager, von einem Büro zum anderen. In jedem der Kämmerchen erwarteten mich mindestens zwei Herren. Frauen schienen nicht geeignet für anspruchsvolle Tätigkeiten. Und Blumen verdarben sowieso nur die Atmosphäre.
Ein Raum glich dem anderen. Im Hintergrund dudelten Kofferradios und die Herren tranken Kaffee, rauchten und stellten Fragen. Sie behandelten mich ausgesprochen freundlich und nachsichtig. Wohl auch, weil sie mich für ein wenig – oder etwas mehr – behämmert hielten. Gleich fünfmal beantwortete ich in fünf Räumen auf fünf verschiedenen Fluren nahezu identische Fragen.

Im Zimmer des Verfassungsschutzes – die hießen wirklich so und sahen gar nicht so kräftig aus – begrüßten mich gleich vier Herren. Nachdem sie ihre Fragen gestellt und ich sie artig beantwortet hatte, legten sie mir nahe, mit der Presse nicht über meine Erlebnisse zu plaudern. Es würde sich negativ für diejenigen auswirken, sagten sie, die drüben auf eine Chance warteten, wie sie mir zuteilwurde.

Im siebenten und letzten Zimmer fragte man mich, wohin, in welche Stadt, welches Bundesland ich gehen wolle. Ich zuckte mit den Schultern und sagte, dass ich, wenn ich es mir tatsächlich aussuchen könne, ich also wirklich die Wahl hätte, ich mich ganz gern in einer kleinen, ruhigen Stadt niederlassen würde.
„Aber klar, du kannst dir aussuchen, wohin du gehen willst“, sagte der zu meiner Rechten und schlürfte aus einer zwei Hände großen Kaffeetasse. Das Teil war so unanständig groß, dass es locker auch als Nachttopf hätte durchgehen können. Einladungen bekam der mit dieser Frechheit sicher nicht sehr viele.

Sattsam ausgestattet mit broschierter Lebenshilfe beendete ich meinen zweitägigen Rundgang. Die Broschüren würden mir den Umgang mit Behörden erleichtern und beim Zurechtfinden in dem für mich fremden Land behilflich sein, sagte jeder in jedem Zimmer. Und wenn es jeder sagt, dann wird schon etwas dran sein.

Eine Bahnfahrkarte nach Nürnberg in der Jacke, einen sauber gefalteten, nagelneuen Hundertmarkschein in der Gesäßtasche und das Bündel Lebenshilfe unterm Arm – so gewappnet verließ ich am Morgen des dritten Tages das Lager.
Obwohl ich mich freute, sogar riesig freute, meine Heimat zu beschnuppern, kennenzulernen, abverlangte dieser erste Schritt doch ein gehöriges Maß an Überwindung. Zu Hause schrieben sie beinahe täglich über die schlimmen Zustände im Westen. Messerstechereien, Mord und Totschlag bestimmen das Bild der Großstädte, hieß es. Ich trug die Bilder in mir und war auf der Hut vor Horden marodierender Jugendbanden und achtete auf messerwetzende Mafiakiller in dunklen Hauseingängen. Aber da war niemand. Und trotzdem stand mir das Wasser in der Hose – vor allem hinten.

Im Bahnhof kreuzten mehrmals Polizisten meinen Weg, aber, so oft ich mich auch umwandte, mir stieg kein hübsches Mädchen nach. Selbst hässliche legten es nicht darauf an, Hermann zu belästigen. Und blutverschmierte Junkies lungerten auch nicht herum. Dabei suchte ich, neugierig wie ich nun mal war, sogar die Toilette nach ihnen ab. Und, ich ahnte es bereits, natürlich randalierte auch im Zug kein Aas.
Es war ja so was von gewöhnlich. So was von langweilig, dieser Westen.

In Nürnberg meldete ich mich im Übergangswohnheim für Aussiedler und rief noch am selben Abend bei Michael an. Einfach so. Nur um mal zu telefonieren. Eine andere Nummer hatte ich nicht. Gut, ich hätte auch bei der Telefonauskunft oder der Polizei anklingen können. Ihre Nummern standen am Apparat. Aber worüber hätte ich mit denen sprechen sollen: „Gestatten, James Wollter. Ich bin neu hier und wollte mich nur mal vorstellen.“?

Schon gleich beim ersten Versuch stand die Verbindung. Erstaunlich, es dauerte nur Sekunden – wirklich wahr, ging ganz fix. Michael freute sich und besuchte mich auch gleich am darauffolgenden Tag. Drei Stunden schlenderten wir durch die Altstadt und parlierten über die alten Zeiten, den unermesslichen Vorzügen, ein freier Mensch zu sein, und unsere Zukunft. Michaels Rastlosigkeit, unaufhörlicher Redefluss und der weiße Schaum in seinen Mundwinkeln, den er nach jedem Satz, selbst nach den ganz kurzen, geräuschvoll einsaugte, gingen mir mächtig auf den Hermann, weshalb ich ihn mehrfach an die Abfahrtszeit seines Zuges erinnerte.

Wir standen auf dem Bahnsteig und schüttelten uns die Hände. Plötzlich faltete er sein Gesicht und fing an zu heulen. Gott, war mir das peinlich. Konnte der damit nicht warten, bis er im Zug saß? Oder wenigstens so lange, bis ich weit weg war? Aber nein, der plätscherte lustig drauf los. Schnell nahm ich meine Hand, steckte sie vorsichtshalber ein und sah mich nach etwas Schwerem um. Aber da war nichts, nur Bänke. Die hatten sicherlich ein passables Gewicht, waren nur etwas unhandlich und dummerweise am Boden befestigt. Wenn der sich meiner Schulter nähert, haue ich ab.
Ich gab ihm ein Papiertaschentuch. Er bellte hinein wie ein getretener Straßenköter und plapperte was von Nervenzusammenbruch, den er erlitt, als er in der ersten Nachte die deutsche Nationalhymne im Radio hörte.
Na und, sei froh, dass du ein Radio hattest. Ich gab ihm ein zweites Taschentuch und er erzählte den zweiten Teil seiner Anekdote, die damit endete, dass er seither auf Etsch sei und nicht mehr loskomme.
Was dieser Flennmann da redete, war mir nur noch Brust. Was glaubte der wohl, wie sehr mich seine Weibergeschichten kümmerten. Warum klopfte der Wassertreter nicht beim Pfarrer an? Ich drückte ihm die restlichen Papiertaschentücher in die feuchte Linke und sagte, ich müsse mal kurz pinkeln.
Auf der Höhe des uringeschwängerten Zitronendufts beschleunigte ich meine Schritte.

Michael bestieg den Zug, sprang davor, dahinter, darüber oder darunter, ging Unterwassersurfen oder Tiefschneetauchen – was auch immer. Es interessierte mich nicht.
Ich sah ihn nie wieder.

Nach einer Woche Nürnberg schickte man mich in ein Wohnheim der Arbeiterwohlfahrt nach Bamberg. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich stand vor dem Bahnhof und verknallte mich bis über beide Ohren in diese wahrlich schöne, kleine, alte Stadt.

Ausgelassen, den Kopf vollgestopft mit Träumen, im Herzen ganz große Pläne und pure Begeisterung im Bauch, folgte ich buchstabengetreu den Anweisungen meiner Lebenshilfefibeln und besuchte ein Amt nach dem anderen. Ordnung muss sein.

Doch bald schon wurde ich in meinem geradezu sportlichem Ehrgeiz ausgebremst. Ohne Vorlage meiner Geburtsurkunde konnte mir kein Personalausweis ausgestellt werden. Arbeit vermittelte man mir keine, weil ich weder Schulzeugnisse noch einen Berufsabschluss oder auch nur einen Personalausweis vorweisen konnte.

Beim Landratsamt beantragte ich einen C-Ausweis und erfuhr, dass diesen sogenannte Sowjetzonenflüchtlinge erhielten. Aber ausfertigen könne man ihn frühestens dann, wenn ich einen Personalausweis vorlegte. Den wollte ich zwar, aber das andere Ding nicht mehr, weil ich kein Flüchtling war – ich wurde nämlich verbannt. Wann versteht das endlich mal jemand! Den Status eines ehemaligen politischen Häftlings verweigerte man mir, weil die Behörde der Meinung war, ich sei viel zu jung gewesen, um zu wissen, was ich tat. Weshalb sie mir auch keine Unterstützungen und Beihilfen nach dem Häftlingshilfegesetz angedeihen lassen könne. Das müsse ich schon verstehen.
Natürlich musste ich das verstehen, war doch laut genug und klang allein schon deshalb einleuchtend. Ich verstand nicht und sagte, dass ich ihre Entscheidung akzeptiere und zugleich aufrichtig bereue, mich der DDR zum Austesten von Einzelhaftsituationen und als williges Prügelexperiment zur Verfügung gestellt zu haben.

Danach schaute ich gleich mal bei einem Psychiater rein. Nicht, weil ich nicht wusste, was ich tat, sondern des Schönheitsfehlers meiner Sprachkunst wegen. Der nette Mensch hielt mich zwar nicht für unzurechnungsfähig, aber irgendetwas anderes, was dem sehr ähnelte.
Ruhig und sachlich klärte mich Doktor Schlauberger in seiner unnachahmlich rücksichtsvollen Art darüber auf, dass die Ursache eines Sprachfehlers ganz sicher nicht die Haft, und entsprechend auch nicht die Einzelhaft bilde. Sehr wahrscheinlich stottere ich seit frühester Kindheit, habe dies nur nicht bewusst wahrgenommen.
Das ich darauf nicht selbst kam?

Auf dem Sozialamt (das hieß wirklich so – mit sozial und so.) reichte man mir eine Liste mit mehr als zwanzig Adressen von Geschäften, bei denen ich beglaubigte Kostenvoranschläge für Schuhe, Socken, Unterhosen und andere Bekleidung einsammeln sollte. Ich beeilte mich und blätterte sie schon am nächsten Tag dem Sachbearbeiter (der nannte sich auch wirklich so – mit Arbeiter und so.) auf den Schreibtisch.
Er warf noch nicht einmal einen heimlichen Blick darauf, langte danach, legte sie in einen hellbraunen Hefter und entnahm diesem einen Stapel Gutscheine, die er mir entgegenhielt. Ich nahm sie, sah sie flüchtig durch und entdeckte nicht ohne Befremden, dass sie in anderen Geschäften als denen von der Liste des Vortages einzulösen waren.

Copyright © 1993 - 2024 by Olaf W. Fichte, Germany. Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Der Roman Wollter beruht auf tatsächlichen Ereignissen.


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