Wollter
Thriller-Drama nach wahren Begebenheiten
Über den Tatsachen-Roman
Die Erlebnisse eines 16jährigen Schülers in der DDR, der aus politischen Gründen zu mehreren Jahren Haft verurteilt, inhaftiert und viele Monate in verschärfter Einzelhaft verbringen musste, sind Grundlage dieser spannenden wie auch ereignisreichen und dramatischen Geschichte des Romanhelden Wollter, der nach der Haft mit 18 Jahren gegen seinen Willen aus der DDR ausgebürgert und in die BRD abgeschoben wird. Wollter, der mit den Verhältnissen in der BRD nicht vertraut ist, der dort keine Verwandten oder Bekannte hat und dem weder Behörden noch Organisationen helfend unter die Arme greifen, findet nur Anschluss zum kriminellen Milieu. Er wird verhaftet und kann - sarkastisch gesagt - nun Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen DDR-Knast und BRD-Strafvollzug am eigenen Leibe erleben.
Der erfolgreiche Roman Wollter ist ein rasanter Thriller, dessen Haupthandlungen sich in der Zeit von Mitte der 1970er Jahre bis Ende der 1980er Jahre ereigneten.
Wollter
Thriller-Drama von
Olaf W. Fichte
Wollter: Vierzehnter Teil
Ich kam mir vor wie auf einem Schulausflug der Klassenbesten. Keiner murrte, keiner benahm sich daneben. Wir forderten die Langeweile heraus und suchten den Sachverhalt zu klären, wie weit sie sich in die Ecke drängen ließ.
Irgendwann tauchten Wachtürme, Stacheldraht und Grenzsoldaten auf. Der Bus stoppte und unsere Aufpasser stiegen aus. Sie sprachen kein Wort. Gleichgültig sah ich ihnen nach. Alle sahen ihnen nach. Und mit jedem Schritt, den sie sich entfernten, lockerte die Stimmung auf, lösten sich Verkrampfungen, lächelten Augen unverhüllter.
Im Schritttempo fuhr er weiter, fädelte in die äußerste rechte Spur und hielt am Übergang, der den Militärs und Diplomaten vorbehalten war.
„Uff!“, entschlüpfte meiner Kehle, als ich mit der linken Gesichtshälfte wuchtig an die Scheibe klatschte.
Unerwartet und heftig fielen die Horden der rechten Sitzreihen über uns Links sitzende her. Drei Rücksichtslose – ganz sicher Spione – drückten mich gegen die Scheibe und wichen keinen Millimeter zurück. Westglas hält das aus. Aus dem Augenwinkel sah ich vier fröhlich grinsende Soldaten. Richtige Amis, in Uniform und mit Kaugummi im Mund. Die Zeigefinger und Mittelfinger an den uns entgegengestreckten Armen zum V gespreizt. Sie standen direkt unter meinem Fenster und sahen hoch. Doch ich konnte mich nicht bewegen, nicht einmal lächeln, sah einfach stur nach vorn. Bestimmt hielten sie mich für irgendeinen ganz schlimmen Ausdruck in ihrer Sprache.
Bei allen anderen, also jenen, die über ihre Körper und ihre Gefühle selbst bestimmen durften, entfachten die lustigen Farbigen jedenfalls eine Flut der Begeisterung, als stünde Humphrey im wedelnden Trench leibhaftig da draußen. Freudengeschrei, Tränen auf beiden Seiten und anhaltendes Pochen gegen die Scheiben. Mein Kopf dröhnte, ich schlug um mich und entfloh den Fängen der Spione oder Geiselgangster oder was auch immer sie darstellten.
Hinter uns lag die begleitende Geräuschkulisse holpriger Panzerplatten. Geräuschlos glitten wir über den Asphalt des Westens. Nach wenigen hundert Meter verlangsamte sich die Fahrt. Unruhig sahen wir aus den Fenstern. Der Hornochse wird doch nicht etwa wenden wollen? Ein Parkplatz – unser erster Stopp, unsere erste Berührung der freien Welt stand unmittelbar bevor. Der Fahrer zog die Feststellbremse. Und mit dem Zischen der entweichenden Luft riss sich der Bär von der Leine. Nahezu synchron sprangen wir von unseren Plätzen und schrien und kreischten wild und laut durcheinander. Wirre Wortfetzen zerrannen im Jubel, stachen in die Wogen der Emotionen, tauchten durch, wirbelten hoch. Jeder beglückwünschte jeden; jeder umarmte jeden und jeder wünschte jedem das Beste. Tränen flossen reichlich. Schluchzend warf sich eine Frau an die Brust des Fahrers. Und Michael glotzte mich aus verheulten Augen blöd an und suchte mit tropfender Nase umständlich nach einem Taschentuch in seinen Taschen, dass er natürlich nicht fand, weil er keines hatte – weil keiner eines hatte.
Und dann küsste auch noch jeder jeden – abartig feucht. Wo die das bloß herhatten?
Ich setzte mich, trocknete mein Gesicht am Hemdärmel, zündete eine Zigarette an und sah aus dem Fenster hinüber auf das sonderbare Metallding entlang dem Grün zwischen den Fahrbahnen.
Empfand ich Freude? Nein, ich glaube nicht. Jedenfalls nicht wirklich. Eher Erleichterung. Erleichterung darüber, quicklebendig dem Verderben des meuchelnden, knallroten Henkers entronnen zu sein. Und auch darüber, die Zeit der Gitter, der Enge, der Kälte, der Einsamkeit, der Dunkelheit und der Uniformen nunmehr in die Lade unschöner Erfahrungen ablegen, um sie Schaufel für Schaufel in die Flamme der Allmählichkeit des Vergessens geben zu können.
Vor zwei oder drei Monaten gab mir mein großherziger Klausi den Rat, ich möchte mir bitte nicht während der Nacht die Pulsadern aufzuschlitzen, weil er keinen Nachtdienst schiebe und mir somit auch nicht zu Hilfe eilen könne. Ich dankte seiner Fürsorge und erwiderte, wer mit dem Leben abschließt, der bringt sich nicht um, der zieht sich zurück und schreibt ein Buch.
Damals wusste ich es nicht, heute schon: Niemals werde ich ein Buch schreiben!
Und jetzt? Jetzt schauen wir uns in der Freiheit um. Kopf hoch, Hermann, auch die Patina werden wir abschleifen.
Vielleicht soll das Ding verhindern, dass einer wendet und in die andere Richtung fährt. Aber wer will schon in die andere Richtung. So viel Glück ist nicht wiederholbar.
Ein hornbebrillter Endvierziger in Strickjacke und Häkelkrawatte kletterte die Stufen herauf. Er grüßte nicht, stellte sich nicht vor, schnaufte einfach nur und verfügte in unappetitlich abgehobener Sprechweise: „Behalten Sie Ihre Plätze bei und bewahren Sie die Ruhe!“
Wir gehorchten – schlagartig.
Schon setzte sich unser Freiheitslift in Bewegung. Mit versteinerten Mienen nahmen wir von Strickjacke Plastiktüten mit Schokolade, belegten Brötchen, Saft und Zigaretten entgegen. Unser Fahrer schob seine Stimmungskassette rein und brachte Strickjacke damit erneut außer Atem. Der hastete mit großen, rasch vorwärtsstrebenden Schritten und, als haben sich beim Verabreichen der Tüten irgendwo ein paar Schrauben gelockert, krampfartig zuckendem Haupt, triefend fiebrigen Augen, unruhigen Fingern und wehender Häkelei den Gang entlang nach vorn und drehte ihr bei „Puff“ den Saft ab, krallte sich das Mikrofon und verbiss sich darin.
So erfuhren wir nun über Lautsprecher unser Reiseziel, lauschten geistreichen Ostfriesenwitzen, auf die niemand reagierte, weil sie jeder kannte, und erhielten Einblick in so essenziell Wichtiges wie: „Viele nehmen an, Bayern sei die waldreichste Gegend Deutschlands. Dem ist aber nicht so – haha! Hessen ist das Bundesland mit dem größten Waldbestand. Na, da haben wir schon was gelernt.“
Ich kaute Brötchen, trank köstlichen Fruchtsaft aus einer eckigen, handtellergroßen Pappschachtel, rauchte „Camel“ nebenher und bewunderte die intakten, sauberen Straßen, staunte über gepflegte Gärten und all die hübschen, freundlichen Häuser.
Was denn, was denn: Sie bohnern ihre Autobahn, wirbeln mit Staubwedel durch ihre Vorgärten, legen Teppiche in Busse und trinken aus Pappschachteln? Womöglich essen sie von Papiertellern, schlürfen Suppe aus Schuhkartons ... unglaublich. Da kommt einiges auf mich zu. Ich werde mich umstellen, unglaublich viel vergessen, umdenken und noch viel mehr lernen müssen.
VII
So kurz kann er sein, der Weg vom gelernten Ostler zum ungelernten Westler.
Als wir im Auffanglager einfuhren, zeichnete sich über Gießen die heraufziehende Nacht ab. Strickjacke mahnte, wie in Lagern üblich, zur Eile. Ich wusste nicht warum, eilte aber, weil alle eilten – und eilte ihnen nach in den Speisesaal, vor dem wir parkten.
Fünf Frauen mittleren Alters, mit Papier und Stift im Anschlag, empfingen uns. Unruhig auf der Stelle tänzelnd riefen sie Namen. Eine rief nach mir und ich eilte zu ihr und reichte ihr meinen Entlassungsschein. Endlich war das Ding weg. Doch die wollte ihn nicht, gab ihn mir zurück und gleich noch einen Stapel Papier dazu. Sie sah die Enttäuschung in meinen Augen, lächelte und legte einen Schein auf den Stoß.
„Begrüßungsgeld. Unterschreiben Sie bitte – hier“, sagte sie und fuhr mit dem Zeigefinger die Liste nach unten.
Für mich war es Westgeld. Fünfzig saubere, glatte Deutsche Mark. Ich betrachtete den Schein von beiden Seiten, faltete ihn in der Mitte, strich zärtlich mit den Fingerspitzen darüber und schob ihn vorsichtig in die rechte Hosentasche. Jetzt war es kein Westgeld mehr, jetzt war es Geld, mein Zahlungsmittel. Ich war angekommen, war zuhause.
Und den Henker wird der Teufel holen.
Sie sah wieder auf ihre Liste: „Sie werden nicht erwartet?“
Ich schüttelte den Kopf und sie legte auf den Stoß einen Schlüssel mit einer dreistelligen Nummer auf dem Papieranhänger.
„Ihr Zimmer ist im Gebäude gegenüber.“
Dahin schickten sie alle von uns, die nicht abgeholt wurden. Na ja, genau genommen waren es nur zwei.
Unser Bus war weg, als ich vor die Tür trat. Es war kühl und mich fröstelte. Einzelne Gepäckstücke lagen verstreut auf dem Gehweg. Michael rief nach mir. Ich schlenderte zu ihm auf die Straße und er stellte mich seinen Verwandten vor. Vermutlich ein Ehepaar. Sie versuchte sein „Herzlich willkommen!“ mit ihrem „Herzlich willkommen!“ zu übertönen. Die Hand reichten mir beide nicht. Ich ihnen auch nicht. Statt dieser drückte mir Michael ein Kärtchen mit einer eiligst aufgekritzelten Telefonnummer in die Hand und verabschiedete sich. Ich dankte ihm noch schnell, ohne zu wissen, wofür, lächelte verzerrt und verzog mich in eine dunkle Hausecke auf die andere Seite der Straße.
Bestimmt ganz furchtbar aufregend, wenn man erwartet wird. Drüben auf der Straße lagen sich hundert Menschen oder mehr in den Armen. Stürmisch fielen sie nach unserer Ankunft übereinander her, umarmten sich herzlich, wie es schien. Nur, woher wussten sie, dass wir kommen würden? Es war mir schleierhaft. Ich trat auf die Glut meiner Zigarette und machte mich mit hängendem Kopf und einem fußballgroßen Kloß im Hals auf die Suche nach meinem Zimmer.
Jetzt hör aber auf! Das ist doch alles gelogen. Gelogen, gelogen, gelogen! Die ganze Leidenschaft nur gespielt. Ist alles gar nicht echt. Bestimmt nicht. Die sind gekauft. Genau so wird es sein. Die haben Schauspieler gekauft, die das Theater jeden Tag irgendwo abziehen. Und auf mich wartete keiner, weil ich kein Geld habe. Aber dafür hätte ich sowieso kein Geld ausgegeben. Wer bin ich denn, dass ich Geld für dummes Abtatschen und albernes Abgeschlecke verschleudere.
Mein Zimmer war schön. Ich sah mich kurz um und verließ es wieder. Unter Menschen zu kommen war noch schöner. Der Eingang zur Kneipe befand sich gleich links neben dem Speisesaal. Ich drückte die schwere Tür auf, entdeckte Andreas und setzte mich zu ihm.
„Was darfs d’n sei, mei Hübschor?“, grinste mich eine stämmige Blonde erwartungsvoll an.
Ich rutschte mich zurecht, setzte mich aufrecht hin, schwellte die Brust und sagte, wie es der Mann von Welt im Westen zu sagen pflegt: „Einen Orangenjuice, bitte.“
„Hä?“, fragte sie und zog dabei ein Gesicht, als ekelte sie etwas.
„Einen Orangenjuice, bitte!“, wiederholte ich freundlich und lauter.
„Der will nen O-Saft!“, rief der Wirt, der hinterm Tresen Gläser spülte.
„Quatsch’s näschste Moal deitsch met mer, vorstähst!“, bellte sie, nahm ihren riesigen, bebenden Busen und wackelte trampelnd zum Tresen.
Dämliche Kuh! Ich nahm extra kein Bier, um Westsprache zu sprechen. Und wenn du schon so schlau bist, dann verrate mir doch mal, warum ich dir nicht die Fresse poliere? Stimmt, weil ich hier zu Hause bin und sich Fett von den Tapeten schlecht löst.
In einem Zug schüttete ich das winzige Gläschen O-Saft runter, zahlte und behielt das Trinkgeld für mich; klopfte Andreas mit der flachen Hand auf die Schulter und verschwand auf mein Zimmer.
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