Wollter

Thriller-Drama nach wahren Begebenheiten

Über den Tatsachen-Roman

Die Erlebnisse eines 16jährigen Schülers in der DDR, der aus politischen Gründen zu mehreren Jahren Haft verurteilt, inhaftiert und viele Monate in verschärfter Einzelhaft verbringen musste, sind Grundlage dieser spannenden wie auch ereignisreichen und dramatischen Geschichte des Romanhelden Wollter, der nach der Haft mit 18 Jahren gegen seinen Willen aus der DDR ausgebürgert und in die BRD abgeschoben wird. Wollter, der mit den Verhältnissen in der BRD nicht vertraut ist, der dort keine Verwandten oder Bekannte hat und dem weder Behörden noch Organisationen helfend unter die Arme greifen, findet nur Anschluss zum kriminellen Milieu. Er wird verhaftet und kann - sarkastisch gesagt - nun Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen DDR-Knast und BRD-Strafvollzug am eigenen Leibe erleben.

Der erfolgreiche Roman Wollter ist ein rasanter Thriller, dessen Haupthandlungen sich in der Zeit von Mitte der 1970er Jahre bis Ende der 1980er Jahre ereigneten.

Ein überaus intensives Leseerlebnis bietet Ihnen das Thriller-Drama Wollter.
Gebundene Ausgabe

Wollter

Thriller-Drama von

Olaf W. Fichte

Wollter: Dreizehnter Teil

Autor: Olaf W. Fichte (Kommentare: 0)

Meine Habe bestand aus vier Schachteln Zigaretten. Ich steckte sie ein, wusch mir die Hände und betrachtete mich im Spiegel.
So also sah der Ostler aus. Präge dir diese Fresse gut ein, es wird das letzte Mal sein, ab morgen bist du ein Westler. Und wenn du irgendwann hierher zurückkommst, deine Familie, deine Freunde besuchen, werden dir die Mädchen mit seitlich heraushängender Zunge hechelnd nachlaufen, so wie sie immer den anderen aus dem Westen nachliefen.

Ich trat hinaus und mengte mich unter die Ziehenden. Einige schlugen mir freundschaftlich auf die Schulter und flüsterten irgendetwas. Sie flüsterten alle, jubelten leise mit dem erlösenden Glanz der Getretenen in den Augen der grauen, feurig hoffnungsvoll strahlenden Gesichter. Ihr Sog trug mich in jenen Saal, in welchem ich zwei Wochen zuvor meinem Irren begegnete.
Mein armer Irrer, ich drück dir die Daumen – beide, ganz fest.

Nur allmählich klangen die erhitzten Gemüter ab. Ein Unterleutnant rief in alphabetischer Reihenfolge unsere Namen und reichte jedem Hiersager, begleitet von einem kurz einsetzenden, sofort wieder verebbenden begeisterten, stummen Beifall, der selbst aus dem noch recht jungen Unterleutnant ein Lächeln kitzelte, seine Ausbürgerungsurkunde.
„Hören Sie, bitte!“, bemühte er sich im neuerlich anschwellenden Raunen. „Während Ihrer Bewährungszeit ist Ihnen jede Einreise in die Deutsche Demokratische Republik untersagt.“
Wir brachen in schallendes Gelächter aus, trampelten mit den Füßen und applaudierten heftig. Dem Unterleutnant stieg die Röte ins Gesicht. Doch entstammte sie weder seiner Gesinnung noch grollte er. Nein, der Kleine war ganz einfach verlegen und zog eine Miene, die ausdrücken sollte: Ich kann doch nichts dafür, ich musste das sagen – Vorschrift.
Seine köstliche Stasihumoreske bezog sich auf einen kleinen gelblich braunen Fetzen, den er uns mit der Ausbürgerungsurkunde und einem heuchlerischen „Gute Reise!“ überreichte. Auf dem Entlassungsschein waren neben Datum, Name, Geburtsort und Geburtsdatum als Ort der Entlassung: „entlassen nach der BRD“, und bei mir, eine Zeile tiefer, „... ausgesetzt auf zwei Jahre Bewährung“ vermerkt. Michael erhielt ein Jahr, mein aufgeschlossener Spion fasste sechs Monate ab, und die meisten anderen zwei Jahre.
Nach diesem von einfachem, heiterem Charakter untermalten Akt der Verabschiedung, ging es hinunter zur Hintertür.

Dicht gedrängt standen wir vor der offenen Tür zum Kfz-Hof und streckten die Hälse, suchten etwas, das sich schamhaft hinter einer bedrohlich vorspringenden, Stacheldraht gekettelten Hausecke unseren sehnsüchtig neugierigen Blicken entzog. Es roch sehr streng. Nein, es stank. Es stank fürchterlich nach faulen Eiern. Scharfe Winde wehten aus Ost. Einige plagten sich in einem fort mit abgehenden Blähungen.
Und, natürlich, ich müsste es nicht erwähnen, rief man unsere Namen auf – alphabetisch, sowieso. Könnte ja einer abgehauen sein. Als einer der letzten durfte ich durch die Tür auf den Hof, frische Luft und ein in glattes, kaffeesatzbraunes Papier eingeschlagenes Päckchen entgegennehmen. Ich nahm es mit einem dankbaren Lächeln, blieb stehen und fingerte an meiner Überraschung.
„Gähn Sä weidor!“, bellte die Uniform neben mir.
Bin nicht müde. „Platz!“, knurrte ich und wickelte variatives Butterbrotpapier von ... oh, Blutwurst ... und ... oh, Griebenschmalz inzwischen weicher, frischer Schnittchen aus Roggenmischbrot.
Ich verstand. Das konnte ich unmöglich annehmen. Verärgert drückte ich den rechten Daumen tief in den Teig, wischte ihn am Papier ab, knüllte den Batzen und formte ihn kräftig mit beiden Händen.
„Mahlzeit!“, sagte ich und hielt ihm die Kugel vor die Brust.
Er glotzte blöd wie Schmalzbrote und umklammerte es, als hätschelte er seinen Einschlafteddy.

Gleitend auf schmierigem Kopfsteinpflaster setzte ich meinen Weg über den Hof, auf welchem sie mich zwei Wochen zuvor aussetzten, entlang eines Dutzend Uniformen und vier Anzügen fort, bog rechts ab – und da stand er, tauchte auf aus dem Nichts, keine fünf Schritte vor mir, in praller Schönheit, der Freiheitslift wie ihn mein Irrer nannte, ohne dass er ihn je sah.

Geblendet drückte ich die Augen zu schmalen Schlitzen, mein Atem beschleunigte sich und ich war verdammt nahe dran auf die Knie zu fallen. Kam mir bei dem Bild, kniend in Motorenöl, mit aufgerissenem Mund einen Bus anzuhimmeln dann doch ein wenig albern vor.
In unschuldig grellem Weiß ein echter Westbus mitten auf dem grauen Hinterhof der Stasi. Der blanke Wahnsinn! Und sogar mit richtiger, kräftig blutroter Reklame. Kein Mensch glaubt mir das. Kein Mensch von hier.

Gerade schickte ich mich an, Einzug zu halten – einen Westbus betritt man nämlich nicht, man hält Einzug –, als mich einer, passend zur Stille im Totengräberkostüm, gänzlich pietätlos von rechts anmaulte: „Name?!“
Geht schon los. Es stimmte also, die wollen einem wirklich alles andrehen. Aber nicht mit mir.
„Danke, meiner ist noch gut“, wehrte ich freundlich ab und setzte einen Fuß auf die erste Stufe des ... des Westautos.
„Warten Sie!“
„Lohnt nicht, Geld habe ich nämlich auch keines mehr.“
„Ihren Namen, bitte.“
Ach so ist das.
Ich nannte meinen Namen, hielt Einzug und – halleluja! Überwältigt hielt ich inne und blickte, nein, starrte schnüffelnd um mich. Gedämpfte Stimmen in einladenden Orangetönen und zartem Wohlgeruch. Aufgeregt beschnüffelte ich den Westen. Aus dem Waffenarsenal des Klassenfeindes? Wohl kaum, denn wer derart unverschämt gut riecht, kann unmöglich feindselig gesinnt sein.

Bald mehr noch irritierten mich Sauberkeit und Glanz. Doch war ich verwegen genug, meine Hand auf die Griffstange zu legen. Ein schönes Gefühl: etwas kühl, aber schön.
Unter den Sohlen Teppichboden. Kein Scherz – ganz wirklich wahr! Ich stand auf Teppichboden, richtigem Teppichboden wie zuhause. Und ich überlegte, ob ich meine Schuhe ausziehen müsse. Unsicher sah ich den Gang entlang, konnte aber nicht erkennen, dass andere sie auszogen und in Socken liefen, weshalb ich meine anbehielt.

Hinten, oder fast ganz hinten, fiel mir ein Kasten mit einer Holztür auf. Das allein war schon ungewöhnlich. Als ich aber genauer hinsah, erkannte ich ein kleines weißes Schildchen mit den schwarzen Lettern „WC“ an der Tür.
Das ist nicht sehr nett. Auf so was falle ich doch nicht rein. Die halten uns Ostler aber für ganz schön bekloppt. War das der Humor des Westen? Etwas schlicht vielleicht. Habe ich noch ganz schön an mir zu arbeiten.
Man stelle sich nur mal vor, an einer roten Ampel falle was auf die Straße und bleibe da dampfend liegen – jedenfalls vorübergehend. Ist das da drüben üblich, muss ich aufpassen, dass ich nicht zu nahe an den Straßenrand komme. Wenn sich Michelin darüber hermacht und es schäumend nach allen Seiten perlt ... Das ist nicht lustig – das ist Scheiße.
„James! James, hierher!“
Ich sah über die Reihen kopfhoher Sitzlehnen hinweg und erkannte Michael, der sich mit einer Hand an die Lehne seines Vordermanns klammerte und mit der anderen den Westduft verteilte.
Jesus, die Leiche lebt! Warum flennst du eigentlich nicht? Ich denke, wir sind frei. Wenn ich frei bin, dann will ich gefälligst staunen dürfen. Ungestört, wenn dir das was sagt! Setz dich, flenne und lass mich in Ruhe. Da ist man schon mal frei, aber drei Minuten zum Schwärmen gönnt einem keiner.

Also staunte ich schneller und setzte mich neben ihn. Warum, wusste ich nicht. Einige Minuten saß ich einfach so da, dann stand ich auf und rutschte eine Reihe weiter hinten auf den Fensterplatz.

Nach, grob geschätzt, einer Stunde steuerte der Bus über den Hof und aufs Tor zu. Fünfunddreißig Männer und vier Frauen hielten den Atem an. Die Frauen waren schon da, als ich den Bus bestieg.
Gedämpfte Stimmung stellte sich ein. Kein Jubel, keine Tränen – konzentriert verfolgten wir jeden sich vom Knast wegbewegenden Meter. Vielleicht zählte der eine oder andere auch mit.
Schwer bewacht rollte die Kolonne der Grenze entgegen. Vor uns steckten zwei dunkle Limousinen die Holperpiste ab. In einer, hieß es, säßen Stasileute, in der anderen ein Anwalt aus Westberlin. Auch die beiden uns folgenden Limousinen seien angemessen bestückt: Im Mercedes der DDR-Anwalt Vogel und in der zweiten noch ein bisschen Stasi.

Nun sind ja Knackis immer recht gut informiert, aber woher diese Informationen stammten, wusste ich mir nur so zu erklären, dass Spione im Bus saßen. Und die, weiß man ja, verdienten ihr Geld bekanntlich damit, alles zu wissen.
„... wir fahr’n in Puff nach Barcelona ... “, plärrte es plötzlich von der Decke.
Erschrocken warf ich den Kopf in den Nacken. Angeber! Wie Girlanden hingen kleine Lämpchen, Schalter und Lautsprecher am Gepäckkasten. Alles da, und jedem seine Dröhnung. Nur die Aschenbecher waren weiter unten.
So plötzlich die verheißungsvolle Ankündigung über mich herfiel, so plötzlich verschwand sie auch wieder.

Unser Fahrer, ein kleines, schmächtiges Männlein mit gepflegtem Scheitel von einem Ohr zum anderen, besaß jene Unverfrorenheit, die einen der vier uns begleitenden Stasigesellen auf die Pirsch lockte. Mit den Worten: „Das ist verboten!“, stürzte er sich auf den Staatsfeind und bereitete dem ungebührlichen Singsang ein jähes Ende. Wie über ein Westpäckchen machte er sich über die Kassette her, riss sie aus dem Rekorder und warf das unschuldige Stück Plastik hasserfüllt und von Ekel geschüttelt zu Boden. Triumphierend suchte er die Blicke seiner Kollegen: Feindlichen Angreifer erlegt, zappelt nicht mehr, beantrage Sonderurlaub.
Sie grinsten ermunternd, sahen in die Runde, passten auf, dass keiner von uns durchbrennt.

Möglich, dass sie ihm gedanklich auf die Schulter klopften, alle gleichzeitig und auf dieselbe Stelle. Schön blau sollte sie werden, sich entzünden und abfaulen – oder besser gleich daran verrecken. Dieser ausgerastete Unhold hatte weder Respekt vor dem Eigentum anderer noch machte er vor meiner Sexualität halt. Dabei musste selbst einem Ignoranten wie ihm klar gewesen sein, dass meine Sexualität während der letzten Monate beträchtlich litt. Mehr und mehr bekam sie etwas von einem nächtlichen Wüstentrip: kalt, staubtrocken und auf sich allein gestellt. Hermann begann bereits unruhig herumzuturnen, benutzte ich nur einen weiblichen Artikel.

Copyright © 1993 - 2024 by Olaf W. Fichte, Germany. Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Der Roman Wollter beruht auf tatsächlichen Ereignissen.


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