Wollter
Thriller-Drama nach wahren Begebenheiten
Über den Tatsachen-Roman
Die Erlebnisse eines 16jährigen Schülers in der DDR, der aus politischen Gründen zu mehreren Jahren Haft verurteilt, inhaftiert und viele Monate in verschärfter Einzelhaft verbringen musste, sind Grundlage dieser spannenden wie auch ereignisreichen und dramatischen Geschichte des Romanhelden Wollter, der nach der Haft mit 18 Jahren gegen seinen Willen aus der DDR ausgebürgert und in die BRD abgeschoben wird. Wollter, der mit den Verhältnissen in der BRD nicht vertraut ist, der dort keine Verwandten oder Bekannte hat und dem weder Behörden noch Organisationen helfend unter die Arme greifen, findet nur Anschluss zum kriminellen Milieu. Er wird verhaftet und kann - sarkastisch gesagt - nun Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen DDR-Knast und BRD-Strafvollzug am eigenen Leibe erleben.
Der erfolgreiche Roman Wollter ist ein rasanter Thriller, dessen Haupthandlungen sich in der Zeit von Mitte der 1970er Jahre bis Ende der 1980er Jahre ereigneten.
Wollter
Thriller-Drama von
Olaf W. Fichte
Wollter: Zwölfter Teil
Michael war außer sich. Wieder in der Zelle schrie er mich an, ob ich denn total bescheuert sei.
„Da stand, dass mir die Staatsbürgerschaft aberkannt wird!“, schrie ich zurück. „Ich bin hier geboren! Das ist mein Zuhause! Meine Eltern, meine Geschwister, meine Freunde – alle sind hier! Und jetzt machen die mich heimatlos! Griene nicht so blöd! Freiwild ist nicht lustig! Das ist Scheiße!“
Michael reichte mir seinen Tabak.
„Bist du nicht. Drüben bekommst du eine Neue, eine viel bessere. Ganz automatisch. Kannst mit mir kommen, wenn du willst. Ich werde dir helfen.“ Er schluckte schwer, sah zur Decke, dann aus dem Fenster. „Acht Jahre habe ich für diese beschissene Unterschrift in Bautzen gesessen. Acht verdammte Jahre meines Lebens.“
Schon am Nachmittag holten sie uns erneut. Diesmal ging es ganz nach oben – bis unters Dach.
Sanft umschmeichelten uns haftverschärfend aufregende Düfte. Hier also verbarg sich der schnieke kleine West-Laden, von dem beim Hofgang so viel gemunkelt wurde. Sie hatten Recht, es fehlte tatsächlich an nichts. Von Kaugummi über Zigaretten und Ananas in Dosen bis hin zu Zahnbürsten, Socken, Jeans und Reisetaschen fand sich auf Tischen gestapelt von allem reichlich vorrätig. In Michaels leuchtendem Gesicht sah ich freudestrahlende Kinderaugen, die Heiligabend Papas Modelleisenbahn bestaunen.
Ein Oberleutnant breitete die Modalitäten des Einkaufs vor uns aus, aber kaum einer hörte ihm zu. Er gestattete uns die Wahl, alles Geld entweder in ihrem parfümierten Wandtresor zum Wechselkurs von eins zu eins auszugeben oder es den nächsten Angehörigen zu schenken. Mitnehmen oder Umtausch in D-Mark fiel aus ungenannten Gründen nicht unter die Wahlfreiheit.
Schließlich rief er unsere Namen und verteilte Papierstreifen. Sechzehn Mal irgendwas, dann Wollter. Kennt man ja. Nun wusste jeder, was er verprassen konnte.
Aus weiter Ferne rollte sie auf mich zu, kam näher und näher, verschlang mich, die schäumende Woge der Glückseligkeit. Ich hatte ein Stück Selbstständigkeit zurückgewonnen. Einkaufen, einfach so einkaufen. Aussuchen, was mir gefiel, vielleicht auch ein bisschen meckern – macht man doch so – und dann bezahlen und „Stimmt so“ sagen und nachsehen, ob die mich nicht nach altem kapitalistischem Brauch beschissen haben. Frei und unabhängig. Ein Fest sollte es werden. Mein Zettelchen zeigte mir eine drei und eine null. Es waren die dreißig Mark vom Tag meiner Entführung. Entführung stand da natürlich nicht, aber das Datum stimmte.
Ich war an der Reihe, stand am Tresen und schlagartig nahm sie mir den Atem, die aromatisierte Freiheit. Mit rasendem Herzen orderte ich furchtbar schlimm stotternd zehn Schachteln Muratti-Zigaretten, ein BiC-Feuerzeug und drei Tafeln Sarotti-Schokolade. Trauben-Nuss, ganz klar. Ich gebärdete mich nicht wie ein richtiger Westler. Die stottern sicher nicht. In nur zwei Minuten rauschte die Freiheit vorüber. Hätte ich auch drüber springen können. Nein, hätte ich nicht. Trotzdem, es ging viel zu schnell; dermaßen schnell und unspektakulär vonstatten, dass ich für einen Moment unentschlossen in die Augen des uniformierten Krämers sah. Der hielt meinem Blick stand, vergrub die Hände in den Taschen seines ausgewaschenen blauen Kittels und blieb stumm. Gibt es sie, die Freiheit? Die bleibende Freiheit? Oder ist es immer nur der Augenblick, ein Gefühl, gar nur ein Wort ohne Bedeutung, tieferen Sinn? Der Schließer war nicht eingesperrt, und doch lebten seine Augen nicht. Freiheit ist Scheiße ohne Lachen.
„Nimm schon“, sagte Michael und stieß mich sanft in die Seite. Unwillkürlich griff ich zu, nahm alles auf, drückte es an meine Brust und ging mit einem kleinen schüchternen Lächeln und einer Träne, die vergnüglich auf meiner Nase tanzte, hinaus.
Wir lagen rauchend in den Betten und schwelgten in Gedanken, als Michael am Abend in die Stille hauchte: „Morgen geht es vielleicht schon los. Dann wären wir morgen um diese Zeit schon im Westen. Ich kann heute bestimmt nicht schlafen.“
„Wohin gehst du?“
„Königsberg. Das liegt im Süden. Meine Verwandten haben da ein Haus. Ich kann bei ihnen wohnen, und bei der Arbeitssuche wollen sie mir auch helfen. Und du? Kommst du mit?“
Ich stand auf, setzte mich ans Brett, drückte die Muratti-Kippe aus und zündete eine neue an.
„Mal sehn. Andreas, du weißt schon, der, der überall, selbst im Gesicht, tätowiert ist, hat mir angeboten, mit ihm nach Hamburg zu gehen. Der hat übrigens auch in Bautzen gesessen. Sechs Jahre. Er will bei der Handelsmarine anheuern und später einen Tätowierladen aufmachen. So was soll da erlaubt sein.“
„Und, was machst du?“
„Keine Ahnung.“
Er war nicht allein. Beim Hofgang stellte sich heraus, dass so ziemlich jeder mit der Abreise an diesem Tag rechnete.
Eingekesselt von sechs Meter hohen Mauern drehte ich meine Runden, wie jeden Tag, in der Schweinebox. Für andere war es die Schweinebucht, was nichts daran änderte, dass diese Parzellen nur unwesentlich größer als eine Doppelgarage waren. Eine ohne Dach, versteht sich. Im Gehege zuckelten mit mir acht Staatsfeinde übers Kopfsteinpflaster. Ich kannte sie alle, nur einen nicht. Ich sprach ihn an, den Mann, von dem es hieß, er und seine Frau seien Spione. Mein erstes tiefschürfendes Gespräch mit einem lebendigen, so wirklich ganz echten Spion. Man, war ich aufgeregt.
„Kann deine Frau auch ausreisen?“, fragte ich unschuldig.
„Ja. Wie ich hörte, soll es morgen losgehen. Du bist noch sehr jung. Wie alt bist du?“
„Achtzehn. Aber dafür kann ich nichts.“
„Und weshalb gehst du?“
„Ich weiß nicht. Ich muss gehen.“
„Unbegreiflich“, und schüttelte seine weiße Mähne, als hätte ich Zweifel an deren Echtheit angemeldet, koppelte sich ab und schlurfte seine Runden solo.
Neben leutseligen Spionen, munkelte der Knastfunk, standen auch Ärzte und anderes hoch qualifiziertes Gut auf der Transportliste.
Michael saß mit offenem Mund auf der Bettkante und starrte die Zellentür an. Draußen war es unruhiger als sonst. Er lauschte den undeutlichen Stimmen. Schritte wurden hörbar, näherten sich.
„Es ist so weit“, quetschte er gurgelnd hervor, ließ sich nach hinten fallen und weinte.
Das war am Nachmittag des 23. September.
Im Schloss drehte sich ein Schlüssel. Michael schoss hoch.
„Baden?“, fragte ein Leutnant.
Baden? Baden, baden, baden! Von Unmengen duftigem Schaum umgeben, lang machen, versinken, träumen.
„Ja!“, rief ich, sprang aus dem Bett, riss ein Handtuch vom Haken, schnappte das Seifstück vom Waschbeckenrand, wirbelte durch die Tür, machte kehrt, rief Michael zu: „Komm! Baden!“, und hüpfte in freudiger Erregung überschwänglich den Gang entlang. Sieben Türen weiter stockte ich abrupt.
Jetzt werde ich aber böse. Wenn sich das nicht augenblicklich als Entgleisung erweist, gehe ich in den Westen.
Ich betrat den Raum. Keine Wanne. Nicht eine. Noch nicht mal eine ganz kleine. Seit Donnerstag vorangegangener Woche hatte sich nichts verändert. Traurig, traurig, wieder nur schaumungünstiges Hochkantbaden. Also gut, ihr habt es nicht anders gewollt. Das habt ihr nun davon.
Im Anschluss an die rituelle Waschung brachten sie uns zur Kammer. Überziehen durften wir sie nicht, aber mit auf Zelle nehmen – unsere Zivilkleidung. Morgen, sagten sie, morgen könnten wir sie tragen. Und nicht vergessen, vor dem Frühstück die Bettwäsche abzuziehen. Bettwäschetausch? Klartext sprachen sie nicht. Keiner. Bettwäschetausch ein Synonym für Ausreise in den Westen?
Die Nacht war angenehm kühl. Michael hampelte unruhig in seinem Bett herum und rauchte eine nach der anderen. Ich legte mich beizeiten schlafen, schlief aber nicht, versteckte mich.
Was da auf mich zukam, sollte kommen. Ich werde es begrüßen, erfreut und dankbar sein und fragen, ob es in der fremden Welt ein Plätzchen für mich gibt. Nicht viel, nur etwas mehr als eine Zelle und keinen Knast an der Ecke und keine Uniform vor der Tür. Und vielleicht darf ich bis zum Abitur zur Schule und dann studieren. Wäre irre gut.
Mit Sandro würde ich gemeinsam in eine Stadt gehen. Aber Sandro sitzt in Ichtershausen. Wenn du mich hörst, Sandro, gib mir Licht auf den Weg. Spiel für mich, bitte. Hilf mir, mein Freund, spiel morgen nur für mich. Weißt du, ich habe eine scheiß Angst.
„Nimm noch einmal die Gitarre und erzähl von deinem Leben ...“, sickerte eine warme Frauenstimme plump vertraulich durchs offene Fenster.
Geht das jetzt auch hier los. Kannst aufhören, ich gebe nichts.
„Ist das nicht wunderschön?“, meldete Michael.
„Hm.“
Ein Wunder, dass die herzkranke Bergziege noch keiner vom Fensterbrett geschossen hat. Winselt, als hätte sie sich im Gitter verfangen.
„... ich verspreche nicht zu weinen ...“
Hör auf mit dem widerwärtig sentimentalen Schmalz. Ist ja nicht auszuhalten. Klingt wie dein Nachruf.
Schon in U-Haft stieg ich darauf aus. Allabendlich mit dem Aufziehen der Nacht jammerte eine oder einer drauflos. Und immer stimmten andere mit ein.
In Karl-Marx-Stadt blieb ich bis zu diesem Abend verschont. Vielleicht eine Stasitante, die mich noch mal so richtig quälen wollte. Sie sang lange – und allein.
Ich zog die Decke über den Kopf und schlief irgendwann ein.
Draußen herrschte nächtliches, tiefes Dunkel, drinnen von weißem Neonlicht betupfte fiebrige Anspannung. Vom Frühstück ließen wir die Finger, sprachen nicht, rauchten Kette.
Nach zwei Stunden tasteten sich erste Sonnenfühler durch den Hochnebel. Vorboten, die von einem prachtvollen 24. September kündeten. Ich öffnete das Fenster und atmete tief durch.
„Woran denkst du?“, fragte Michael.
Willst mich aushorchen? „Woran schon – an nichts. Ist mir alles Brust.“ Nichts war mir Brust. Ich musste auf den Topf, konnte aber nicht, weil er ihn seit dreißig Minuten oder länger blockierte.
„Wird das da ein Fluchtversuch oder ist es einfach nur Abschiedsschmerz?“
„Ist ja gut. Reg dich nicht gleich künstlich auf. Wann die uns wohl holen werden?“
„Falls du die Schüssel mitnehmen willst, lass mich vorher noch mal pinkeln.“
„Dann sag doch was“, stellte sich und zog seine Hose hoch.
Also, eines war mir da sofort klar: Wenn ich Mitte dreißig sein werde, wird Hermann ganz sicher erwachsen sein.
„Vielleicht holen sie uns erst am Nachmittag. Oder am Abend, wenn es dunkel ist.“
Ich stand vor der Toilette, mit dem Rücken zu ihm. „Sieh mich an. Sieht so Jesus aus?“
„Man, bist du heute gereizt.“
„Ich bin nicht gereizt! Weiß gar nicht, was das ist.“ Heule ein paar Runden, dann hältst du wenigstens dein Maul.
Mit einem Mal stürmte er zur Tür. Ich erschrak und lenkte in jäher Bewegungsfolge den Strahl über die Wand zum Fußboden zurück ins Becken. Exzellente Körperbeherrschung mal wieder. Desinteressiert betrachtete ich die graugrüne Ölfarbe an der Wand vor mir.
„Eh, James ... James, es geht los“, hauchte er, und ich war mir ziemlich sicher, er schmiere augenblicklich bewusstlos ab.
Doch da hantierte es auch schon an der Tür. Gerade noch rechtzeitig brachte er sein Ohr und ich Hermann in Sicherheit.
„Nehmen Sie Ihre persönliche Habe auf. Alles, was Sie bei uns erhalten haben, belassen Sie bitte im Haftraum. Folgen Sie mir!“
Ich drehte den Kopf, um Michael zu fragen, ob er auf mich warte, als er auch schon mit seinem Bündel unterm Arm davonhastete.
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