Wollter
Thriller-Drama nach wahren Begebenheiten
Über den Tatsachen-Roman
Die Erlebnisse eines 16jährigen Schülers in der DDR, der aus politischen Gründen zu mehreren Jahren Haft verurteilt, inhaftiert und viele Monate in verschärfter Einzelhaft verbringen musste, sind Grundlage dieser spannenden wie auch ereignisreichen und dramatischen Geschichte des Romanhelden Wollter, der nach der Haft mit 18 Jahren gegen seinen Willen aus der DDR ausgebürgert und in die BRD abgeschoben wird. Wollter, der mit den Verhältnissen in der BRD nicht vertraut ist, der dort keine Verwandten oder Bekannte hat und dem weder Behörden noch Organisationen helfend unter die Arme greifen, findet nur Anschluss zum kriminellen Milieu. Er wird verhaftet und kann - sarkastisch gesagt - nun Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen DDR-Knast und BRD-Strafvollzug am eigenen Leibe erleben.
Der erfolgreiche Roman Wollter ist ein rasanter Thriller, dessen Haupthandlungen sich in der Zeit von Mitte der 1970er Jahre bis Ende der 1980er Jahre ereigneten.
Wollter
Thriller-Drama von
Olaf W. Fichte
Wollter: Dreißigster Teil
Und die ganze Hetzerei nur wegen eines Hauses mit der Nummer drei. Drei Nummern wären mir lieber gewesen. Darauf hätte ich auch ganz bestimmt nicht verzichtet. Ehrenwort!
Unliebsamen Knackis drohten sie nicht einfach nur mit Haus Drei. In den meisten Fällen brachten sie sie augenblicklich da hin. Haus Drei war die Krankenabteilung von Straubing. Und in Straubing saßen überwiegend lebenslängliche und solche mit Sicherungsverwahrung.
Man erzählte sich, dass dort viele auf Grund eines Gutachtens von Maaß in der Sicherungsverwahrung strandeten.
Die dortige Krankenabteilung erarbeitete sich seinen hervorragenden Ruf über einen ganz besonderen, weil einzigartigen Service: Haus Drei war das Synonym für Betonspritze. In der war irgendeine heimtückische Psychoscheiße. Wer aufmuckte, den brachten sie ins Haus Drei und spritzten ihn weg. Bis zum Überlaufen vollgepumpt brachten sie ihn wieder zurück.
Die Typen sahen dann gar nicht mehr sehr lustig aus. Wochenlang schlichen sie wie Schlafwandler umher. Unmöglich mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Die schnallten rein gar nichts mehr, sahen aus wie schales Bier und äußerten sich wie Trockenobst.
Tag für Tag stopften sie irgendwelche Pillen in sie hinein, um sie langsam von ihrem Trip zurück ins wirkliche Knastleben zu holen.
In meinem Arbeitsbetrieb war einer, den hatten sie kurz hintereinander gleich zweimal weggespritzt. Auf dem zweiten Mal blieb er hängen, wie es hieß. Pech gehabt. Kunstfehler.
Dem half nichts mehr. Er war Anfang zwanzig und darf den Rest seiner Tage wie ferngesteuert umherziehen – Rückkehr ausgeschlossen.
Im Dienstzimmer der EF0 wartete bereits Knörr, der Dienstleiter, beiderseits von einem Stationsschließer flankiert. Hinter mir postierten sich die beiden, die mich holten. Und vor der offenen Tür versammelten sich einige neugierige Knackis.
„Zieh dich aus!“, ordnete Knörr, ganz Mann, ganz die Autorität, an.
„Hier, vor all den fremden Männern?“, fragte ich schüchtern.
„Soll ich dir mal was über Haus Drei erzählen?“
Ich zog mich aus. Ohne Eile.
„Gibt es da auch so leckere Rinderzunge?“
Diesen abstoßenden Viehabfall setzten sie uns jeden Mittwoch vor. Wie, bitteschön, sollten sich die jugendlichen Knospen meiner Geschmacksnerven ausbilden, wenn die Zunge schon über dem Tablettrand hängt?
„Könnte vielleicht einer der Herren in meiner Wohnung spülen? Habe ich vor lauter Aufregung vergessen. Lampenfieber, meine ich.“
„Drecksau!“, sagte die Figur links vom Dienstleiter.
„Danke! Und bitte auch das Fenster ...“
„Bist du bald fertig?!“, erkundigte sich Knörr, obwohl er sehen musste, dass ich beinahe nichts mehr auf dem Leib trug.
Als ich nackt vor ihnen stand, machte sich einer daran, mein Haar mit Latex behandschuhten Fingern zu durchwühlen. Gleichzeitig graste sein Kollege mit einem Holzstöckchen durch Hermanns Nest.
„Heb die Füße! Einen nach dem anderen!“
„Gut, dass einem das wenigstens vorher noch erklärt wird“, murmelte ich, drehte mich um und winkelte die Beine an – eins nach dem anderen.
Flugs setzte der Nestwühler seine erfolglose Suche nach verborgenen Schätzen an meinen Fußsohlen und zwischen den Zehen fort.
„Beug dich nach vorn! Die Beine auseinander!“
Wann lasst ihr euch endlich mal was Neues einfallen?
„Wird das eine Orgie? Dann sollten wir langsam über den Preis verhandeln. Ich bin nicht ...“
„Zieh die Arschbacken auseinander!“
Auch das.
„Weiter!“
Kannst wohl nicht genug bekommen?
Nachdem sie die Aussicht genossen hatten, reichte mir einer, die von ihm zuvor Naht für Naht sorgfältig abgetastete frische Kleidung.
Während ich mich anzog, fragte ich mich, weshalb einer ein Metallstäbchen durch die Öffnung der Zahnpastatube bohrte, anstatt mir einfach eine neue Tube zu geben?
Knörr ging voraus. Und ich stolperte ihm mit meinem in ein Handtuch eingewickeltem Waschzeug in den Händen und viel zu großen schnürsenkellosen Schuhen an den Füßen über den Gang nach.
Drei Arrestzellen standen zur Auswahl. Zwei für den normalen und eine, die mittlere, für den verschärften Arrest. Wer in diese hinein durfte, der gehörte zu den harten Jungs. Die aus den anderen blieben, was sie immer schon waren: Weicheier. Mein Namensschild hatte auch schon einer angebracht. Gleich rechts neben der mittleren Tür. So musste ich also gar nicht lange suchen.
Zelle 51 war dem verschärften Arrest vorbehalten.
Halb zehn, also zu einer Zeit, zu der die Welt noch in Ordnung ist, öffnete er die Türen.
„Mach dich rein!“
Mit eingezogenem Kopf stieg ich die Stufe hoch.
„Aber bitte nicht peitschen!“
„Halt’s Maul, Schwätzer!“
„Rüpel!“
„Was war das?“
„Was war was?“
„Das, was du eben gequatscht hast?“
„Ach das, was ich eben gequatscht habe. Ja, was quatschte ... Ach ja, ich sagte, hier fehlen Dübel. Für Kleiderhaken. Sie verstehen?“
Er verstand. Oder auch nicht. Jedenfalls flogen die beiden schweren Bunkertüren schön laut hinter mir zu. Mit den Riegeln bemühte er sich auch sehr – damit sie wirklich jeder hören konnte.
„So, da wären wir mal wieder“, begrüßte ich mein neues Zuhause, das mir fremd und doch vertraut war.
Mein Zuhause war nämlich etwas ganz Besonderes. Es hatte sogar einen Namen: Beton – Kein Stück Lebenskraft.
Die haben mich in der Betonwüste ausgesetzt. Können manchmal ganz schön fies sein, die Westler. Und dieses Farbspiel von Grau in Grau. Aber dennoch eine sehr hübsches Stück Dunkelkammer. Doch, doch. Hat der Innenarchitekt nach langem Grübeln sein Diplom abgeliefert. Sieht man doch gleich.
Die funktionelle Liege: ein Betonklotz.
Auf ihr rekelte sich eine von schmeichelnd dunkelgrünem Gummi umhüllte Schaumstoffmatratze. Wirklicher Sommerschick. Ein echter Knüller. Beides ordnete sich dezent dem Gesamtbild unter. Gleich gegenüber zwei Betonklötzer. Mit einem gewissen Raffinement auf unterschiedlichen Höhen in der Wand verankert.
Scharfsinnig erkannte ich darin blitzschnell, dass hier Tisch und Sitzmöbel, ohne aufdringlich zu wirken, eine geradezu perfekte Einheit bildeten.
Rechts von der Tür duckte sich ein Stück dunkelweiße Keramik auf einem kleinem Betonsockel. Das hatte was. Wirklich wahr. Ein Stehklo ohne Spülvorrichtung musste einfach was haben. Auch wenn es nur etwas Fragwürdiges ist. Wie auch immer, jedenfalls fügte es sich in unübertroffener Harmonie in das Ensemble. Schmeichelte ihm gar. Der gerissene Innenarchitekt ließ das gute Stück nämlich nicht einfach im Boden versenken. O, nein. War ihm wohl eine Spur zu ordinär. Was ich durchaus verstand. Der Schlingel bediente sich eines famosen Tricks: Er nahm einen Hauch Beton und erhöhte kurzerhand den Boden seines Kunstwerkes um zwanzig Zentimeter. Daher die überraschend gelungene Stufe an der Pforte, mit der er vor allem Kleinwüchsige mit einem Gefühl räumlicher Größe positiv zu überraschen vermochte.
Wer außergewöhnlich hoch, so über 170 Zentimeter, gewachsen war, sollte besser den Kopf einziehen, wollte er nicht schon von Anbeginn der Bunkertage seinen Dachschaden mit sich herumtragen.
An der Unterkante des aus milchigen Glassteinen bestehenden Ausgucks entdeckte ich einen verspielten Metallschieber. Ehrfürchtig zog ich an ihm. Und, siehe da, es strömte Luft durch den freigelegten zehn Zentimeter breiten Spalt ins Innere. Sanft streichelte er meine trockene graue Haut. Den Himmel sah ich nicht, wohl aber eine schicke Sichtblende und zwei erotische feinmaschige Gitter, die sich verschämt an das unvermeidbare Gitter schmiegten.
Das war wirklich so. Ohne Spaß!
Wer wird den meckern?
Sei froh, dass du in der heutigen Zeit noch ein Einzelzimmer bekommst.
Bin ich auch. Sogar sehr. So sehr, dass ich mich mal wieder sinnlos mit heißen Nudeln behängen könnte. Hier kann ich fett werden, ohne dass die Möbel unter mir die Grätsche machen.
Plötzlich und unerwartet öffnete sich die Kostklappe und jemand fragte: „Alles in Ordnung?“
Ich wirbelte herum und sah gerade noch das Gesicht des Sanis verschwinden, dann knallte die Klappe zu.
„Danke, der Nachfrage“, knurrte ich, sank aufs Bett und weinte leise vor mich hin.
Nach Einbruch der Dunkelheit spendete mir eine in der Wand über der Tür eingelassene und mit einem Lochgitter geschützte Glühbirne so viel Licht, dass ich mühelos den Weg zum Stehklo fand.
Für die tägliche Ganzkörperhygiene stand mir ein niedliches Plastikschüsselchen zu Verfügung. Irgendwann war es vermutlich mal weiß.
Mein Wasser erhielt ich morgens und abends zur Fütterung in einem Zweilitermessbecher gereicht.
Mit Wasser hatte ich überhaupt so meine Probleme. Um jeden Tropfen musste ich, wie in Wüsten nun mal Brauch, kämpfen. Hatte ich mein Geschäft abgewickelt, drückte ich den Klingelknopf für Notfälle und wartete eine Stunde oder länger auf den Ruf „Was ist los?!“ durch die verschlossene Tür, um zu antworten: „Luft! Hau weg, den Scheiß!“, woraufhin ein kurzes, heftiges Rauschen die Wüste erschütterte und für einen Moment zum Leben erweckte. Und nach einigen Stunden verdünnte sich dann auch schon die Umgebungsluft.
Ich argwöhnte hinter dem ausgelagerten Spülknopf, die da draußen führten eine Strichliste, um gewissen Regelmäßigkeiten auf die Schliche zu kommen. Blieb mein Klingeln einmal aus, kämen sie gleich mit einem passenden Karton.
Insgesamt empfand ich den Bunker nicht als Strafe. Man hatte ja so seine Erfahrungen. Mir gingen weder Papier und Stifte noch Tabak und Radio ab. Auch die Kontaktsperre war mir Brust.
Schlimm war nicht die Isolation, schlimm war die totale Isolation. Ich vermisste Zeitungen und Bücher jeden Alters.
Am ersten Sonntag versuchte ich es mit einem Trick. Ich bat um eine Bibel, weil ich doch sonntags immer bete. Sie stiegen nicht darauf ein und verweigerten sie mir, weil ich ohne Konfession sei. Glaubt man kaum: Diese Ignoranz an einem mystischen Ort wie diesem. Na, so werden die mich ganz bestimmt nicht bekehren.
So vergingen die Tage, ohne dass sich mir auch nur einmal eine Abwechslung bot. Ich trieb Sport, sprach mit mir selbst und schlief ansonsten.
Obwohl ich es nicht mit letzter Gewissheit sagen kann, glaube ich doch, Stenzel bewahrte mich am vierten Tag gerade noch rechtzeitig vor dem Abdriften in eine Depression.
Mit der Abendessenausgabe besuchte er mich in der Wüste. Ich sprang vom Bett und schrie: „Bitte nicht peitschen!“
Verwundert riss er die Augen auf.
„Ist nichts ansteckendes“, beruhigte ich ihn.
„Werden Sie nicht unverschämt.“
„Ich werde nicht unverschämt, ich bin unverschämt. Aber das wissen Sie doch, Herr Doktor.“
„Wie geht es Ihnen ansonsten?“
„Ansonsten blendend!“
Stenzel verdrehte den Kopf nach allen Seiten.
„Schön, nicht? Bleiben Sie zum Tee?“, fragte ich höflich und lächelte einladend.
„Ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass ab dem fünften, also mit dem morgigen Tag, die Kontaktsperre aufgehoben wird und Sie am Gemeinschaftshofgang teilnehmen dürfen. Außerdem ...“
„Aber da kann er doch rauchen!“, nörgelte der kleine dicke Dienstleiter dazwischen, der hinter Stenzels Rücken auf seinen Auftritt lauerte.
„Ist mir bekannt. Außerdem erhalten Sie in den nächsten Tagen einen Rapportschein und einen Stift ausgehändigt. Beantragen Sie Ihre vorzeitige Entlassung aus dem Arrest. Ich werde Sie, sobald Ihr Antrag auf meinem Tisch liegt, umgehend amnestieren.“
Ich sah ihm ins getönte Gesicht und fragte mich, ob der mich nach nur vier Tagen Bunker schon für völlig verblödet hielt. Normalerweise kommt keiner aus dem verschärften Arrest zum Gemeinschaftshofgang? Einzelhofgang unter Bewachung, ja. Aber niemals Gemeinschaftshofgang. Und amnestiert wurde auch noch keiner. Üblicherweise gab er, wenn überhaupt, die letzten zwei oder drei Tage auf drei Monate oder länger Bewährung.
Aus tiefster Überzeugung beteiligte ich mich niemals an derlei perversen Spielchen. So weit kam es noch: Ich stelle den Antrag, er lässt mich zappeln und hofft, dass ich ausraste, damit er mir noch ein paar nette Tage Bunker verordnen kann. Wer bin ich denn? Ich bin doch nicht blöd.
„Schieben Sie ein Mal, nur ein einziges Mal, Ihren Stolz beiseite und ergreifen Sie die Ihnen entgegengestreckte Hand!“, echauffierte er sich grundlos.
„Contenance, Eure Gnaden.“
„Seien Sie ruhig! Werden Sie das tun?!“
„Ich bin ruhig.“
„Den Antrag stellen!“
„Damit kann ich doch nirgendwo angeben.“
„Noch etwas: Die angekündigte Anzeige bei der Staatsanwaltschaft habe ich nicht erstattet“, sagte er und reichte mir die Hand zum Abschied.
Als ich sie ergriff, grinste er wie ein Glückskeksbäcker.
„Ich werde sie auch später nicht erstatten.“
„Gehabt Euch wohl!“, sagte ich und sah ihm nach.
Beim Hinausgehen zog er den Kopf ein und wippte in den Knien. Stenzel bot eine wirklich alberne Vorstellung. Er sollte sich öfter im Bunker blicken lassen.

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